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Bücher für den Wahlherbst 2017 Das Innenleben des Kanzleramts

Die perfekte Sommerlektüre für den Wahlherbst 2017: Wie funktioniert Macht in Deutschland? Dies ergründen gleich vier Neuerscheinungen.

1. Konstantin Richter: «Die Kanzlerin. Eine Fiktion»

Der Schatten von Angela merkel auf einer violetten Wand.
Legende: Bei Richter geht es nicht um Fakten, sondern Fiktion. Diese bereitet dem Autor genauso Freude wie dem Leser. Getty Images

«Wir schaffen das!» Angela Merkels Ausspruch während des Flüchtlingssommers 2015 ist längst zur Ikone geworden. Die ansonsten eher unnahbar und kühl erscheinende Kanzlerin schien damals ihr Herz ungewohnt weit zu öffnen. Sie liess über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland einreisen. Sie hat dafür Zuspruch geerntet. Und ganz viel Kritik.

Buchhinweis

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Konstantin Richter: «Die Kanzlerin – Eine Fiktion», Kein & Aber 2017.

Der deutsche Journalist und Autor Konstantin Richter nähert sich in seinem neuen Roman «Die Kanzlerin» spekulativ der Persönlichkeit Angela Merkels an und fragt nach den Motiven für ihr Tun. Der Autor hält sich zwar an die Eckdaten. Aber Lücken im Wissen über die Persönlichkeit Merkels – und da gibt es viele – füllt er mit seiner Fantasie. Unbekümmert, verspielt und oft humorvoll.

Merkel am Laptop

So ist bei Richter etwa Merkels besagte Rede einer Laune entsprungen. Die Kanzlerin liess an einem einsamen Abend – bei Weisswein und Mozart – die Gedanken fliessen. Getrieben von der Sehnsucht, Gutes zu tun und dabei Glück zu empfinden, tippte sie die Rede in den Laptop.

Konstantin Richter geht es nicht erstrangig um harte Fakten. Er liefert Fiktion. So wie es im Titel steht. Und er tut dies in seinem lesenswerten Buch mit offenkundiger Freude.

2. Robin Alexander: «Die Getriebenen»

Angela Merkel
Legende: Die Innenansicht der Macht: Alexander nähert sich den politischen Entscheidungen Angela Merkels. Getty Images

Robin Alexanders Werk ist das Gegenstück zu demjenigen Konstantin Richters. Alexander, auch er ein Journalist, versucht den Flüchtlingssommer 2015 mit akribischer Recherche zu rekonstruieren.

Buchhinweis

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Robin Alexander: «Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht», Siedler Verlag 2017.

Tief blicken lässt die Darstellung der Innenwelt der Parteien und des Machtapparats um Angela Merkel. Es bestätigt sich der Eindruck, dass vieles an der damaligen Politik der Kanzlerin überhastet, unüberlegt und letztlich auch fragwürdig war.

Ein wütender Journalist

Etwa, dass sie das drängende Problem, wie denn die hohe Zahl der Flüchtlinge in kurzer Zeit einigermassen anständig unterzubringen wären, lange Zeit unter den Teppich kehrte.

Negativ ins Gewicht fällt jedoch, dass Alexander dezidiert gegen Merkel Partei nimmt. Man hat stellenweise den Eindruck einer regelrechten Wut des Journalisten auf die Kanzlerin, der er die Grenzöffnung in erster Linie als Führungsschwäche auslegt. Dass die Kanzlerin in Tat und Wahrheit zahllosen Menschen das Leben rettete, geht in dieser Darstellung schlicht unter.

3. Jochen Arntz und Holger Schmale: «Die Kanzler und ihre Familien»

Konrad Adenauer
Legende: Hatte acht Kinder und machte darum kaum Aufhebens. «Kinder haben die Leute immer», sagte Konrad Adenauer. Getty Images

Das Privatleben der Bundeskanzler ist seit der Gründungszeit der BRD ein zuverlässiger Spiegel der gesellschaftlichen Realität und hat diese mitunter auch geprägt. Dies ist eine der Hauptthesen des lesenswerten Sachbuchs von Jochen Arntz und Holger Schmale.

Buchhinweis

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Jochen Arntz / Holger Schmale: «Die Kanzler und ihre Familien. Wie das Privatleben die deutsche Politik prägt», Dumont 2017.

Die beiden Journalisten entwerfen ein sachkundiges Bild des gesellschaftlichen und politischen Wandels aus der Perspektive der privaten Welt der verschiedenen deutschen Kanzler.

Den Anfang macht Konrad Adenauer, der acht Kinder hatte, darum jedoch kaum Aufhebens machte. «Kinder haben die Leute immer», fasste «der Alte» den damaligen gesellschaftlichen Tenor treffend zusammen.

Partnerschaft auf Augenhöhe

Seine Nachfolger Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger lebten in Kleinfamilien – dem gängigen Modell der 1960er-Jahren entsprechend. Mit Willy Brandt kam familiärer Flower Power ins Kanzleramt: Kinder aus verschiedenen Ehen, geschieden, ein Kanzler mit einer emanzipierten Frau an der Seite. Letzteres galt danach auch für die Zeiten von Kanzler Helmut Schmidt.

Für Helmut Kohls Sternstunde als Politiker, die Wiedervereinigung, sei die ostdeutsche Abstammung seiner Frau Hannelore entscheidend gewesen, schreiben die Autoren. Sie habe dem Kanzler die Sicht des anderen Deutschland gezeigt. Und heute? Mit Angela Merkel lebt eine moderne Frau im Kanzleramt, die mit ihrem Ehemann eine Partnerschaft auf Augenhöhe lebe. Zeitgemäss eben.

4. Rafael Seligmann: «Deutsch Meschugge»

Eine gruppe junger Demonstranten schreit in die Menge.
Legende: Errungenschaften der Aufklärung dürfen niemals als selbstverständlich gelten, mahnt Rafael Seligmann in seinem Roman. Getty Images

Um Angela Merkel geht es in Rafael Seligmanns dystopischem Werk «Deutsch Meschugge» nur am Rande. Sie wird 2019 bei vorgezogenen Neuwahlen abgewählt und in Rente geschickt. Rechtsradikale und Linksradikale räumen ab. Eine absolute Mehrheit hat jedoch keine Partei.

Und dies ist die Chance für den schlitzohrigen Paul Levite. Er ist jüdischer Abstammung, sucht eigentlich nur einen Job und schafft es, sich von den siegreichen Nationalpopulisten und Kommunisten zum Kanzler wählen zu lassen.

Buchhinweis

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Rafael Seligmann: «Deutsch Meschugge», Transit Verlag 2017.

Satire oder bittere Realität?

Der Text liest sich zunächst als Satire auf die politischen Verwerfungen der jüngeren Zeit. Doch schnell stellen sich Zweifel ein. Ist nicht verstörend vieles bereits Realität geworden? Trump in den USA; Le Pen, die in Frankreich 34 Prozent der Stimmen geholt hat; die Populisten in den Demokratien Osteuropas.

Rafael Seligmann, der sich auch als Politologe und Zeithistoriker einen Namen gemacht hat, spricht mit diesem Werk eine eindringliche Mahnung aus: Dass Errungenschaften der Aufklärung wie Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und Toleranz niemals als selbstverständlich gelten können.

Auch in vermeintlich gesetzten Demokratien gilt es sie gegen Anfeindungen von Extremisten und Vereinfachern jeglicher Couleur zu verteidigen – gerade heute.

Sendung: Radio SRF 1, Buchzeichen, 08.07.17, 14:06 Uhr

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