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Literatur Eine Familiengeschichte zwischen Weltkriegen und Ostrock

André Herzberg ist Musiker. Seit über 30 Jahren singt und textet er für die ostdeutsche Rockband Pankow. Und er ist Schriftsteller. Sein dritter Roman «Alle Nähe fern» über seine eigene jüdisch-deutschen Familie im 20. Jahrhundert ist mehr als eine Familiengeschichte. Er ist ein Wurf.

Die Locken von früher sind weg. Stattdessen kurzes Haar und Hut. Der 60-Jährige sitzt mir gegenüber am Kaffeehaustisch und erzählt von letzter Nacht. Spät sei es geworden. Und lang habe es gedauert, das Konzert mit Pankow. Und die Heimfahrt erst heute früh. André Herzberg entschuldigt sich, dass er sich nicht früher mit mir treffen konnte. Aber bei dem Verkehr wisse man ja nie.

Pankow gibt es jetzt seit über 30 Jahren. Eine DDR-Band zwischen Rebellion und Anpassung. Auch das kommt vor im neuen Roman «Alle Nähe fern». Platten werden gemacht, Konzerte gegeben, sogar im Westen, und die ganze Zeit arbeitet Peter, der Gitarrist, mit der Stasi zusammen. Trifft sich regelmässig mit Agenten in Wohnung, wo Müller-Lehmann dran steht aber nicht drin ist. Auch Rolf kommt vor, der Schlagzeuger, der nach Westen abhaut, zu viel trinkt und daran stirbt.

Wahre Geschichten im fiktiven Roman

Alle diese Geschichten sind wahr. Und doch ist dieses Buch keine Autobiografie. Es ist auch kein DDR-Roman. Es ist ein Familienroman, der ein ganzes Jahrhundert umspannt und André Herzberg die Gelegenheit gibt, seine Familie endlich kennenzulernen und Klarheit über sie zu kriegen.

Buchhinweis

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André Herzberg: «Alle Nähe fern». Ullstein, 2015.

Dazu holt er weit aus. Er beginnt beim Grossvater vor über 100 Jahren. Heinrich, der Lederhändler, der sich krummlegt für seine Karriere und zum Unternehmer aufsteigt. Seine Gesinnung ist deutschnational. Er passt sich an, geht in den Krieg, kämpft für Kaiser und Vaterland.

Die Söhne sind da anders. Sie verstehen nicht, wie der Vater so naiv sein kann. Und wie er die Nazis unterschätzt! Kurze Zeit später sind alle im Exil. Heinrich ist in New York, die Söhne anderswo.

Väter, die ihre Söhne verraten

Der jüngere ist in London. Paul heisst er. Er ist Kommunist und verheiratet. Nach dem Krieg kehrt er zurück nach Deutschland und baut eine neue Welt mit auf. Die bessere, sozialistische, wie er meint. Seine Frau verlässt er für eine andere. Das gemeinsame Kind verlässt er auch.

Das Kind ist Jakob. Der Erzähler. Die Ich-Figur. Er ist der Musiker, der Künstler, der Träumer. Der sensible, der alles versteht und bei dem alles zusammenläuft.

Jakob erzählt vom Verrat, der sich durch die Familiengeschichte zieht. Der Grossvater schmeisst den Vater auf die Strasse, als da schon die Nazis warten. Der Vater verpfeift den Sohn bei der Stasi. Die Väter, die ihre Söhne verraten, das sind die zentralen Geschichten des Romans. Und das zentrale Bild dafür ist das von Abraham und Isaak, die alttestamentarische Erzählung also, in der Abraham von Gott befohlen bekommt, seinen Sohn Issak zu opfern. Immer wieder taucht das Motiv im Roman auf.

Der Terror hinterlässt subtile Spuren

«Alle Nähe fern» ist eine Geschichte über eine jüdische Familie in Deutschland. Dennoch ist es keine Holocaust-Geschichte. Der Terror kommt vor. Bleibt aber im Hintergrund. Die Ausgrenzung läuft feiner und verdeckter, hinterlässt andere Spuren. Die Mutter, die dem Jungen über die Nase streicht, damit es keinen Höcker gibt. Die Locken, von denen es heisst, sie würden zu kraus. All das wird nur angetönt. Wie das Bild von Abraham und Isaak.

Und am Kaffeehaustisch in Pankow sagt André Herzberg, dass es die Auseinandersetzung mit religiösen Themen gewesen sei, die ihn auf die Idee brachte, dieses Bild mit den persönlichen Verratgeschichten zu verbinden. Und das ist es wohl auch, was aus dieser Geschichte einen starken Roman gemacht hat.

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