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Literatur Faulkners «Schall und Wahn» ist ein psychologisches Wunderwerk

«Schall und Wahn» gilt als Meilenstein der Weltliteratur. Der Roman erschien 1929, lange bevor Faulkner den Nobelpreis entgegennehmen konnte. Aber der damals 30-Jährige schrieb so gewagt wie später nie mehr. Wie aufregend das noch heute ist, lässt sich in einer neuen deutschen Übersetzung nachlesen.

«Schall und Wahn» ist eine von William Faulkners klassischen Südstaatengeschichten. Die Compsons, seit Ende des 17. Jahrhunderts in Mississippi ansässig, hatten einst Generäle und Gouverneure hervorgebracht. Nun aber scheitern sie schon seit einigen Generationen «bei jedem Unterfangen ausser Langlebigkeit und Selbstmord», wie Faulkner in einem späteren Appendix zu seinem Roman schreibt.

Formales Experiment

In diesem Patt befanden sich nach dem 1865 verlorenen Bürgerkrieg viele der weissen Grossgrundbesitzer des Südens. Nicht bereit zu Veränderungen, sahen sie sich als Opfer des gottlosen Nordens – und in zum Himmel schreiender Verkehrung als Opfer ihrer ehemaligen Sklaven, deren Freiheit sie nicht anerkennen wollten.

Es ist der damaligen Zeit also sehr genau abgeschaut, was Faulkner in den Jahren 1910 und 1928 an Konstellation und Stimmung vor den Leserinnen und Lesern ausbreitet. Dass der Roman aber eine solche Wucht entwickelt und immer noch so aktuell ist, liegt zuerst einmal an seiner Form.

Innensicht auf die Aussenwelt

«The Sound and the Fury» erzählt den Niedergang der Compsons nicht linear. In den ersten drei Kapiteln lässt er uns jeweils einen Tag lang in die Haut von einem der drei Söhne schlüpfen. Zuerst, am 7. April 1928, an seinem 33. Geburtstag, in jene des geistig behinderten Benjamin. Benjamin kann noch nicht einmal sprechen. Mit dem, was von seinem Umfeld in sein Inneres dringt, zeigt er uns jedoch ein erschütterndes Bild der Familie und ihres Zerfalls.

Buchhinweis

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William Faulkner: «Schall und Wahn». Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert. Rowohlt Verlag 2014.

Dann begleiten wir den Studenten Quentin durch jenen Tag im Juni 1910, an dem er sich weit weg von zuhause das Leben nimmt, weil er keine Zukunft für sich sieht. Schliesslich landen wir mit dem hemdsärmeligen Geschäftemacher Jason wieder in der Gegenwart, dem 6. April 1928. Wir erleben mit, wie einer mit dem bisschen Macht, das ihm geblieben ist, sich selbst letztlich am meisten schadet.

Widersprüche zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Diese konsequente Innensicht auf die Aussenwelt in den ersten drei Kapiteln von «Schall und Wahn» ermöglicht beim Lesen eine ganz direkte Erfahrung gesellschaftlicher und allgemein menschlicher Bedingungen. Sie mutet einem auf anregende Weise aber auch Chaos zu – schliesslich ist das Leben kein Roman, in dem sich alles wohlgeordnet fügt.

Die Gedanken und Wahrnehmungen der drei Compson-Brüder sind natürlich subjektiv und sprunghaft. Sie vermitteln aber auch Muster mit hohem Wiedererkennungswert, zum Beispiel da, wo es um die Widersprüche zwischen Wunsch und Wirklichkeit geht. Faulkner vollbringt ein psychologisches Wunderwerk, ohne je kommentierend eingreifen zu müssen. Und erreicht ganz nebenher, dass wir selbst jenen Figuren Verständnis entgegenbringen, die bis ins Mark unsympathisch sind.

Neuübersetzung mit Mehrwert

Für das vierte und letzte Kapitel, den 8. April 1928, ein Ostersonntag, wählt Faulkner dann geordnetes, konventionelles Erzählen. Allerdings richtet er den Fokus auf die schwarze Haushälterin Dilsey, die loyal bei den Compsons ausharrt – und verblüfft erneut. Ganz ohne Kitsch zeichnet er das Porträt einer Frau, die ihr Schicksal angenommen hat und die Verhältnisse doch unerschrocken im Auge behält.

In dieser Coda zu Faulkners Südstaatendrama von 1929 kommen die Vorzüge von Frank Heiberts Neuübersetzung besonders gut zum Tragen. Höchst ungewöhnlich für einen weissen Autor damals, gab Faulkner dem «Black American English» literarisches Gewicht. Er schrieb die Sprache der ehemaligen Sklaven sozusagen phonetisch mit – in ihrer ganzen schillernden Farbigkeit. So präsentiert sie sich nun auch im Deutschen, als der Hochsprache ebenbürtig und ohne die oft üblichen Dialekt-Verballhornungen.

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