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Literatur Liebe zwischen deutschem Kleinbürgertum und persischer Mystik

«Grosse Liebe» handelt von einem Jungen, der sich in «die Schönste des Schulhofs» verliebt. Dieser Jugendliebe im Deutschland der 80er-Jahre verbindet der deutsch-iranische Autor Navid Kermani mit Geschichten aus der arabischen und persischen Liebesmystik.

Jutta ist vier Jahre älter als der Ich-Erzähler des Romans – und damit scheinbar unerreichbar für den 15-jährigen Jungen. Völlig unerwartet erbarmt sich Jutta aber des Gymnasiasten und beginnt mit ihm eine Liebesaffäre. Der Ich-Erzähler begleitet den Jungen, der er selber einmal war, auf den Stationen seiner Liebe: vom Verlieben, dem ersten Blickkontakt, dem Kennenlernen, dem Zusammenkommen, über die Erfüllung der Liebe, den ersten Sex, bis zur Trennung und dem ersten Liebeskummer. Ganz konkret: von der Raucherecke auf dem Schulhof, in der der Junge die Aufmerksamkeit der Schönsten zu erhaschen sucht, zum Flüsschen hinter der Schule, an dem der erste Kuss passiert, bis in die WG von Jutta, die mit ihren Freunden ein Haus besetzt hat, wo die beiden das erste Mal miteinander schlafen.

Vom mystischen Orient ins Hier und Jetzt

Der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani ist ein Brückenbauer zwischen Orient und Okzident, und genau diese vielen Herzen, die da in seiner Brust schlagen, vereinen sich in seinem Roman zu einer Art Liaison. Kermani verschränkt nämlich die erzählerischen Teile der Jugendliebe mit Geschichten der arabischen und persischen Liebesmystik aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Damit holt er Fremdes und Fernes – also mehrere tausend Jahre alte Texte – ins Hier und Jetzt, ins Deutschland der 80er-Jahre, und stellt beides nebeneinander.

Eine zentrale Rolle nimmt dabei einer der bedeutendsten Autoren der persischen Sprache ein: Nizami, der im 12. Jahrhundert gelebt und die Geschichte von «Leila und Madschnun» geschrieben hat. Diese unglückliche Liebesgeschichte dient nun als Gegenentwurf zu Kermanis Geschichte. Madschnun verliebt sich in Leila, ist von ihr besessen und leidet Qualen unter der Liebe, weil sie nicht erwidert wird. Er zieht sich in die Wüste zurück und wird verrückt – daher sein Name. Und so lassen sich die Texte aus der arabischen und persischen Mystik, die nicht immer leicht zu verstehen sind, als Gleichnis lesen auf die Geschichte des Jungen. Gleichzeitig erweckt Kermani beim Lesen immer wieder den Verdacht, dass die Liebe zwischen dem Jungen und der Schönsten des Schulhofs den mystischen Texten nicht standhalten kann.

Gegen das Kleinbürgertum

Und trotzdem hebt die Handlung nicht ab und verschwindet in fernen Zeiten, sondern steht auf einem realen und handfesten Fundament: «Grosse Liebe» spielt in einer protestantisch geprägten westdeutschen Kleinstadt in den 80er-Jahren – ein Schauplatz, den Navid Kermani sehr präzise und pointiert beschreibt, auch weil er ihn selbst wohl so erlebt hat.

Auf der einen Seite das bildungsbürgerliche Milieu, in dem sich der Ich-Erzähler bewegt, auf der anderen Seite die deutsche Friedensbewegung, die alles Verkrustete aufzubrechen versucht; man protestiert gegen die atomare Aufrüstung, gegen den Bau der Stadtautobahn, gegen den Faschismus, für das Recht auf Abtreibung. Man opponiert mit Drogen und anarchistischer Haltung gegen die kleinbürgerliche Welt der Eltern und unterstellt allem Herkömmlichen ganz schnell eine faschistische Grundhaltung.

Hundert Tage Schreiben für sieben Tage Liebe

Die Liebe des Ich-Erzählers dauert zwar nur eine Woche, er hat sich aber vorgenommen, sie in 100 Tagen zu erzählen. Für jede Station der Liebe sind – so der Ich-Erzähler – zehn Seiten vorgesehen: für die Begegnung, für das Kennenlernen, für die erste Berührung, die Vereinigung und das Zusammensein. Hinzu kommen 50 Seiten für die Verzweiflung am Ende – so der (ursprüngliche) Plan, an den sich der Erzähler jedoch nicht hält, weil er sich mit einem Mal länger in den schönen Erinnerungen aufhält als ursprünglich vorgesehen.

Buchhinweis

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Navid Kermani: «Grosse Liebe». Hanser Verlag, 2014.

Ja, die Erinnerung. Vielleicht ist ja auch sie es, die dem Erzähler etwas vormacht? Beim Lesen schleicht sich der leise Verdacht ein, dass der Junge sich seine grosse Liebe vielmehr einbildet, als dass es sich um eine wirkliche, reale grosse Liebe handelt. Dass er nur liebe um seiner selbst willen, um die Liebe als Gefühl zu empfinden.

Denn es gibt da einen Brief, den die Schönste des Schulhofs dem Jungen nach ihrer Trennung geschrieben hat, mit Vorwürfen, die nicht näher benannt werden, ausser: «...dann beschuldigte sie ihn im Gegenteil, sie nicht wahrhaft, also nicht gross genug geliebt zu haben: Er habe die Blume zertreten, sich der Kostbarkeit unwürdig erwiesen und so weiter.»

Gegensätze und Herausforderung

Diese Doppelbödigkeit ist es, mit der Navid Kermani immer wieder und gerne spielt. Er lässt den Leser gern im Ungewissen und scheut sich nicht davor, ihn herauszufordern: indem er mit Gegensätzen spielt, indem er die Texte der arabischen Liebesmystik nicht näher erläutert oder indem er sich als Erzähler einschaltet und zum Leser spricht. Dass er dies alles aber mit einem sympathischen Augenzwinkern und sehr viel Humor macht, dass er erzählen kann wie wenige, das macht den grossen Reiz dieses Buches aus.

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