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Literaturredaktorin Luzia Stetller über «Der letzte Satz»
Aus Kultur-Aktualität vom 03.08.2020. Bild: Wikimedia
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Roman über Gustav Mahler Das Jahrhundert-Genie und seine Gedanken kurz vor dem Tod

Während seine Kräfte schwinden, sinniert ein Genie über sein Leben: Der Schriftsteller Robert Seethaler hat mit «Der letzte Satz» ein meisterliches Stück über den Musiker Gustav Mahler komponiert.

Gustav Mahler sitzt in Wolldecken gewickelt auf dem Sonnendeck der «Amerika»: Nach anstrengenden Wochen als Dirigent der New Yorker Philharmonikern ist er erschöpft. Wohl regelmässig hat sich der geniale Komponist in den letzten Jahren weit über seine Kräfte verausgabt.

Jetzt zwingen ihn Fieberschübe zur Ruhe. Und er ahnt, dass dies seine letzte Schiffsreise zurück nach Europa sein wird.

Altes Schwarzweissfoto: MAn nmit Hut und Stock an Bord eines Schiffes
Legende: Gustav Mahler im April 1911 auf der Reise von New York nach Europa. Kurz darauf starb der Komponist in Wien. Getty Images / ullstein bild Dtl.

Ist sein Glück auch ihres?

Auch Mahlers Herz ist in Aufruhr. Er spürt, dass sich seine Frau Alma, die gerade zwei Stockwerke unter ihm mit Tochter Anna beim Frühstück sitzt, schon längst von ihm entfernt hat.

Alma, seine grosse Liebe, deren jugendliche Schönheit ganz Wien verzaubert hatte: «Es gibt keine andere», denkt er, «sie ist mein Glück. Ich weiss nicht, ob ich ihr Glück bin, jedenfalls ist sie meins.»

Schwarzweissbild eines jungen Frau
Legende: Nach dem Tod ihres Ehemannes Gustav heiratete Alma Mahler den Architekten Walter Gropius. Getty Images / Bettmann

Robert Seethaler zeichnet Gustav Mahler als selbstkritischen, hadernden Künstler, der als Dirigent und Komponist zwar alles erreicht hat, aber gleichzeitig im Rückblick spürt, dass er als zänkischer und ewig kränkelnder Partner eine Zumutung darstellte. Unberechenbar waren seine Launen und Wutausbrüche; übermässig sein Alkoholkonsum; verletzend seine Eifersucht und Selbstherrlichkeit.

Die ewig Wartende

Warum hat er sich nicht mehr um seine Frau gekümmert? Alma war doch schon länger unglücklich; ihre Klagen sind ihm plötzlich wieder präsent: «Ich habe auf Dich gewartet, zu Hause, im Theater, in Hotelzimmern. Ich habe immer nur gewartet.» Kein Wunder, konnte vor diesem Hintergrund ein anderer ihre Aufmerksamkeit erobern: der Architekt Walter Gropius.

Die Erinnerung an Almas aufgebrachte Reaktion, als er sie im vergangenen Sommer erstmals auf die Liaison ansprach, tut ihm immer noch weh: «Ich bin eine Frau, er ist ein Mann. So einfach ist das. Davon hast Du natürlich keine Ahnung. Mit solchen Dingen beschäftigt sich ein Genie nicht. Damit will man nichts zu tun haben, wenn man immer nur nach dem Höchsten strebt. Aber es gibt kein Höchstes. Darüber ist immer noch irgendetwas.»

Widersprüche einer Künstlerseele

Diese inneren Dialoge mit Alma, die Mahler nun an Deck durch den Kopf flimmern, gehören zu den grossen Stärken dieses Romans, weil sie nicht einfach das Bild des egomanen Genies zementieren, sondern die Widersprüchlichkeit einer solchen hypersensiblen Künstlerexistenz aufzeigen.

Er hatte Alma unbewusst immer wieder abblitzen lassen. Ihre liebenswürdige Geste zum Beispiel, bei Rodin eine Büste von ihm in Auftrag zu geben, drohte schon beim Modell-Sitzen im Eklat zu enden: Wie zwei Kampfhähne sassen die beiden Jahrhundert-Talente einander gegenüber.

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«Ich bin der Welt abhanden gekommen» von Gustav Mahler, auf ein Gedicht von Friedrich Rückert
aus Passage vom 21.06.2019. Bild: Wikipedia
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Jetzt, mitten auf dem Ozean, spürt Gustav Mahler, dass seine Kräfte schwinden. Er muss sich eingestehen, dass das wohl auch Alma weiss.

«Wahrscheinlich hatte seine Krankheit sie gehalten, sein Bitten und Flehen, seine Drohungen und Versprechungen, die Lächerlichkeit, der er sich ausgesetzt, und die Erniedrigungen, die er sich selbst zugefügt hatte. All das hätte nicht genügt, Alma am Gehen zu hindern. Nur die Ahnung des nahenden Todes hatte das vermocht.»

Buchhinweis

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Robert Seethaler: «Der letzte Satz». Hanser Berlin, 2020.

Reue über verpasste Chancen

«Der letzte Satz» ist kein moralisierendes Buch, sondern ein sprachlich und atmosphärisch hervorragend komponiertes Kleinod. Geschickt gelingt Robert Seethaler die Gratwanderung zwischen Pathos und Betroffenheit.

Der vielleicht grösste Musiker des 20. Jahrhunderts blickt am Ende seines Lebens nochmals zurück: zwar reuig über verpasste Chancen, aber aufgehoben in einer gewissen Zuversicht, dass Fehler zum Menschsein gehören. Und dass auch Unsterbliche sterblich sind.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 3.8.2020, 07:20 Uhr.

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