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Der erste Satz: Christoph Hoehtker
Aus Kultur Extras vom 07.11.2016.
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Schweizer Buchpreis «Alles sehen» heisst nicht alles verstehen

Sein Debütroman über den PR-Mitarbeiter einer Genfer Bank kurz vor der Finanzkrise hatte vor drei Jahren Aufsehen erregt. Jetzt legt Christoph Höhtker seinen zweiten Roman vor: «Alles sehen.» Die Geschichte ist so grell wie seine Figuren – und wenig plausibel. Aber das macht nichts.

Ist das lustig? Ein Soziologieprofessor, der in der Nervenklinik lebt, irre geworden von seinen Forschungen. Kommunistische Fuhrunternehmer, dealende Taxifahrer, neurotische Möbeldesigner und ein zum Islam konvertierter Underdog mit Attentatsplänen.

Alles beginnt auf einem Parkplatz in Bielefeld und endet mit einer langen Autofahrt zum Sanatorium nach Zürich. Dazwischen liegt die Handlung, die nur an einem einzigen Tag spielt, dem 4. November 2009.

Grelles Personal, grelle Story

Es ist ein grelles Personal, das Christoph Höhtker aufbietet, um eine grelle Story zu erzählen. Alle haben irgendwie mit allen zu tun in den absurd überdrehten Wendungen und Windungen dieser Geschichte: Der Ex-Broker Frank Stremmer will seinen Freund, den Amateur-Autor und Gelegenheitstaxifahrer Michael Brandt mit Ania zusammenbringen.

Sie ist Soziologiestudentin polnischer Abstammung, Pilates-Trainerin, hinreichend sexy und intellektuell begeistert von jenem Professor Jobst-Michael Höhtker, den seine Theorie des «Alles Sehen» und der «Totalen Soziologie» in die Klinik gebracht hat.

Ort der Absteiger

Soziologie und Wahnsinn bilden das Zentrum in Christoph Höhtkers Groteske, die dem Comic viel verdankt und dem Genre des realistischen Romans deutlich weniger. Überhaupt die Soziologie. Von ihr und der Stadt Niklas Luhmanns muss offenbar satirisch die Rede sein, wenn man wie Höhtker selbst aus Bielefeld stammt.

B., die Stadt der Soziologen und der sozialen Absteiger ist das eigentliche Thema dieses Romans. Hier finden sich Personen und Typen, die als Genrebilder ihrer selbst das forcierte Geschehen in Gang halten.

Hier, in der Stadt in Ostwestfalen, sammeln sich die Kaputten und die Ausgeschiedenen, von denen der Roman stilverliebt und rasant zu berichten weiss.

Alles was irgendwie passt

Parodiert wird dazu auch der exakte Jargon der Wissenschaft. Es gibt Fussnoten, Tabellen, kartografische Angaben, Textzitate und Anderes, Fundstücke aus dem Baukasten modernen Erzählens, die der Roman ziemlich souverän benutzt.

«Alles Sehen» beschreibt als erfundene Theorie zugleich die Haltung dieser Prosa. Häufig wechselt sie die Perspektiven und die Mittel, bemüht, alles zu belichten, was noch irgendwie in den Rahmen der Geschichte passt.

Im Outfit des Witzes

Das ist nicht durchweg plausibel, weder in der Figurenzeichnung noch im Fortgang des Erzählten. Aber darauf kommt es nicht an, in dieser abstrusen Geschichte der Stadt und ihrer geschädigten Bewohner.

In ihr findet sich im zeitgemässen Outfit der Witz des Biedermanns. Zügig lacht er, doch meist auf Kosten anderer. Ja, ja, der irre Professor aus Bielefeld. Alles sehen, alles sagen. Alles egal. Nur das Tempo ist wirklich wichtig und Höhtkers etwas spezielle Schreibe.

Ist das lustig? Ja, vielleicht. Aber nur dann, wenn man einen geeigneten Zugang findet zu dieser modischen Passform der literarischen Groteske.

Sendehinweis

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  • Live-Übertragung der Preisverleihung, Radio SRF 2 Kultur, 13.11., 11.03 Uhr.
  • Sondersendung zum Buchpreis, Radio SRF 2 Kultur, 13.11., 21:00 Uhr.
  • Der Schweizer Buchpreis, Radio SRF 1, 13.11., 14:06 Uhr.

Die Nominierten

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Buchhinweis

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Christoph Höhtker: «Alles Sehen», Ventil Verlag, Mainz 2016.

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