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Literatur Siegfried Lenz: Sein «gefährlicher» Roman erscheint posthum

Ein vergessenes Manuskript und mehr als sechs Jahrzehnte später ein sensationeller Erfolg. Siegfried Lenz' Roman «Der Überläufer» über einen Soldaten der deutschen Wehrmacht ist ein Phänomen.

Hatte der Autor sein eigenes Manuskript vergessen? Siegfried Lenz erwähnt seinen Roman jedenfalls nicht mehr, seit der Text Anfang der fünfziger Jahre geschrieben und das Manuskript vom Verlag Hoffmann und Campe abgelehnt wird. «Der Überläufer» wird wegsortiert. Kein neuer Versuch, kein Verzeichnis, keine Veröffentlichung. Ein Roman verschwindet.

Dabei bleibt es, über sechs Jahrzehnte. Bis jetzt, jetzt ist das Buch wieder da. Und es ist ein sehr überraschender Scoop. Ein grosser Nachkriegsroman, erfolgreich angekommen in der Gegenwart.

Mückenschwärme und unsichtbare Gegner

Walter Proska ist der Überläufer. Er ist Soldat der deutschen Wehrmacht im letzten Sommer des Krieges, irgendwo in den Rokitno Sümpfen an der Grenze Weissrusslands zur Ukraine. Ein kleiner versprengter Trupp, der eine Bahnlinie sichern soll und ständig in Partisanenkämpfe verwickelt ist, hat sich in einer Art primitiver Waldfestung verschanzt, im Abwehrkampf gegen Mückenschwärme und einen immer unsichtbaren Gegner. Sinnlose Befehle, die Hitze und die ständige Todeserfahrung legen eine surreale Atmosphäre über das Geschehen.

«Sieben Tage Aufbau – sieben Tage Abbau», erklärt der Kommandeur den Irrsinn, «was man mit uns macht, ist Abbau.» Als einer nach dem anderen aus dem Trupp durchdreht und verschwindet, zieht Walter Proska seine Schlüsse. Sein Zweifel wird am Ende Gewissheit: Er wird desertieren, die Seiten wechseln, überlaufen zu den Partisanen der Roten Armee.

Ein Überläufer zur Roten Armee: ein Skandal

Siegfried Lenz ist selbst Überläufer. Da ist er 18-jährig, bei der Marine und es passiert in Dänemark im Mai 1945, nur wenige Tage vor Kriegsende. Kurz ist Lenz bei den Engländern in Gefangenschaft. Dann wird er freigelassen. Das sind die Parallelen.

Der Rest sind Differenzen und die machen den Skandal: Der kalte Krieg hat schon begonnen, als Siegfried Lenz an seinem zweiten Roman arbeitet. Ein Deserteur als Held, das könnte noch gehen, aber ein Überläufer zur Roten Armee, das geht nicht mehr. Die Systeme sind längst in neuer Frontstellung, die

Einflusssphären auf der Karte neu abgesteckt.

«Gefährlicher» Roman

Buchhinweis

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Siegrfried Lenz: «Der Überläufer», Verlag Hoffmann und Campe, 2016.

Walter Proska, der Überläufer, ist in der DDR geblieben nach dem Krieg, sein Autor lebt seither in Hamburg. Da verläuft nun die ideologische Grenze, die Lenz mit seiner Geschichte berührt. Mit seinem ersten Buch «Habichte in der Luft» hatte er einen überraschenden Erfolg. «Der Überläufer» fällt durch.

Das fertige Manuskript wird vom Verlag retourniert und zur Neufertigung empfohlen. Eine Novelle könnte es ja werden, meint der Lektor, dem bei einer zweiten Lektüre irgendwie die ganze Richtung nicht passt. «Pazifistische, defaitistische Gedankengänge» prägten den Roman. Er sei «gefährlich» und würde «wegen seiner Gesinnung äusserst scharf unter die Lupe genommen werden».

Der verspätete Bestseller

Lenz überarbeitet den Roman mehrfach erfolglos, dann verschwindet er in der Schublade und kommt erst kurz vor seinem Tod 2014 ins Literaturarchiv Marbach, versteckt unter anderen Papieren. Dort ist «Der Überläufer» jetzt entdeckt worden, das «reife Werk eines jungen Mannes», in «beispielhaft schönem Deutsch verfasst» wie Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Ein Buch, in dem Lenz zu seinem eigenen Stil findet, trotz Anleihen bei Hemingway und Kafka. Ein Nachkriegsroman in der Zeitkapsel. Ein verspäteter Bestseller. Ein Phänomen.

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