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Literatur Taras Schewtschenko – der Prophet des Maidan

Der Dichter Taras Schewtschenko ist die Identifikationsfigur des Aufstands in der Ukraine. Am Sonntag wird sein 200. Geburtstag gefeiert. Könnte er sehen, was aktuell auf dem Maidan passiert, würde es ihm das Herz zerreissen, findet Walter Koschmal, Professor für slawische Philologie.

Walter Koschmal

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Walter Koschmal ist Professor für slawische Philologie an der Universität Regensburg. Er hat sich eingehend mit Leben und Werk von Taras Schewtschenko auseinandergesetzt.

SRF: Das Lied «Meine Lieder, meine Träume», nach einem Gedicht von Taras Schewtschenko ist die inoffizielle Hymne des Aufstands in der Ukraine. Welche Rolle spielt der Dichter bei den Umwälzungen in der Ukraine?

Walter Koschmal: Taras Schewtschenko ist im Moment unglaublich präsent auf dem Maidan. Mit Text und Bild: Die Aufständischen haben ihr zentrales Quartier im Rathaus aufgeschlagen und auf dem Gebäude prangt ein überdimensionales Foto von ihm. Er ist ihre Identifikationsfigur. Seine Gedichte werden auf dem Maidan rezitiert, seine Lieder gesungen: Er ist der Prophet des Maidan.

Was hat ihn zur Identifikationsfigur gemacht?

Ein ganz wesentlicher Grund ist, dass Taras Schewtschenko ein zentraler Begründer der ukrainischen Sprache ist. Er hatte die Wahl zwischen dem existierenden Russischen und einem sich erst entwickelnden Ukrainischen. Und er hat sich für den schwierigeren Weg, für das Ukrainische entschieden – aus nationalen, patriotischen Gründen.

Militär steht auf Balkon, darunter BIld des Dichters.
Legende: Auf dem Rathaus in Kiev prangt ein überdimensionales Bild von Taras Schewtschenko. Keystone

Er hat sein Leben lang gelitten unter Russland, unter dem Zaren. Er wurde verbannt und in seinem Wirkungskreis eingeschränkt. Damit ist er sozusagen der Repräsentant der ukrainischen Opferrolle. Und: Seine Gedichte greifen nicht nur die Themen der ukrainischen Folklore auf, sondern, was noch viel wichtiger ist, die Rhythmen und die Melodien. Taras Schewtschenko – das ist nicht nur gesprochene, sondern auch gesungene Volksliteratur.

Am Sonntag jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Gibt es jetzt einen Streit darum, wer ihn für sich beanspruchen darf?

Es gibt keinen Streit, denn man hat diesen Geburtstag fast zehn Jahre lang vorbereitet. Die Festvorbereitungen haben mit Juschtschenko begonnen, wurden mit Janukowitsch weiter getrieben und enden jetzt mit Jatzenuk – und alle drei gehören anderen Parteien mit ganz unterschiedlichen Richtungen an. Taras Schewtschenko ist für viele immer noch «Unser Schewtschenko» und wird das auch bleiben.

Sie haben seine Texte und sein Leben eingehend studiert: Was würde Taras Schewtschenko selber zur aktuellen Situation in der Ukraine sagen?

Das ist eine schwierige Frage. Er würde sich höchstwahrscheinlich auf die Seite der ukrainischen Patrioten stellen, auf die Seite derjenigen, die für die ukrainische Kultur stehen. Trotz allem glaube ich aber, dass es ihm das Herz zerreissen würde, wenn das Land auseinanderbrechen würde.

Er ist der Nationaldichter der Ukraine. Stassen und Universitäten sind nach ihm benannt. In Westeuropa ist er kaum bekannt. Warum nicht?

Darauf gibt es mehrere Antworten. Eine wichtige scheint mir die sehr stark ausgeprägte ukrainisch-folkloristische Ästhetik zu sein, seine Dichtung ist ein interner, ukrainischer Dialog, von aussen schwer verständlich. Dann existiert im Deutschen für vieles keine adäquate Übersetzung, zumindest keine neuere. Und dann ist es natürlich auch schlicht und einfach so, dass man sich ausserhalb der Ukraine in der Regel wenig fürs Ukrainische interessiert.

Ist nicht einfach auch seine gesellschaftliche Bedeutung grösser als seine literarische?

Das ist eine interessante Frage, Taras Schewtschenko wurde ja ganz wesentlich über seine Themen wahrgenommen. Schewtschenko ist der revolutionäre Dichter, Schewtschenko ist der Freiheitsdichter, Schewtschenko ist der anti-russische Dichter: Er wird ganz wesentlich als historische Figur wahrgenommen. Er ist ein Held, bei dem sich faktisches und fiktives immer wieder überschneiden. Die Ästhetik seiner Texte tritt damit sehr stark in den Hintergrund. Was natürlich auch wieder ein Grund ist, weshalb man ihn ausserhalb der Ukraine nicht mit demselben Interesse liesst.

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