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Literatur «Telegraph Avenue» von Michael Chabon: Liebeserklärung ans Vinyl

Der amerikanische Erfolgsautor und Pulitzer-Preisträger Michael Chabon setzt der legendären Telegraph Avenue zwischen Oakland und Berkeley ein literarisches Denkmal: Hier versuchen zwei Jazzfreaks mit ihrem Plattenladen der digitalen und kommerziellen Konkurrenz zu trotzen – und geraten unter Druck.

Archie Stalling ist schwarz, Nat Jaffe ist weiss: Sie sind seit Jahren eng befreundet, spielen gemeinsam in einer Band und teilen auch beruflich eine grosse Leidenschaft: die Faszination für alten Soul, Funk und Jazz. Und diese Begeisterung ist ihr Kapital: ihr Plattenladen, der im unteren Teil der Telegraph Avenue angesiedelt ist, gilt als Mekka für Vinyl-Freaks. Hier, in der Bay-Area von San Francisco, verkehren zu Beginn des 21. Jahrhunderts Menschen aus allen Schichten und Kulturen, diskutieren über Jazz-Legenden oder wühlen in Kisten und Regalen – stets auf der Suche nach Raritäten, die ihre Sammlung ergänzen könnten. Bei Brokeland-Records – dem Plattenladen – landen viele kostbare Nachlässe, die manche Trouvaillen versprechen.

Goliath gegen David

Buchhinweis

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Michael Chabon: «Telegraph Avenue». Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Kiepenheuer & Witsch, 2014.

Eines Tages taucht der Schwarze Gibson Goode auf: Er hat als einstiger Football-Star ein Vermögen verdient und will dieses nun in einen Megastore für CDs, Platten und DVDs investieren. Das Paradies Brokeland Records gerät unter Druck; und damit auch die Freundschaft von Archie und Jaffy. Gibson Goode macht dem Vinyl-Spezialisten Archie ein lukratives Job-Angebot: Er soll in seinem Supermarket die Abteilung des «alten» Jazz übernehmen und die Faszination für die schwarze Musik ins breite Volk hinaustragen.

Archie weiss, dass eine Zusage gleichsam ein Verrat an Jaffe bedeuten würde; denn dieser will den Kampf gegen Goliath aufnehmen. Handkehrum plagen Archie grosse finanzielle Sorgen. Seine Frau Gwen, eine Hebamme, ist hochschwanger – ein denkbar schlechter Moment also, um auf ein todgeweihtes Business zu bauen.

Jonglieren mit Klischees

Endlich konnte er sich lange mit Jazzlegenden beschäftigen: Autor Michael Chabon.
Legende: Endlich konnte er sich lange mit Jazzlegenden beschäftigen: Autor Michael Chabon. Keystone

Michael Chabon ist bekannt dafür, dass er in seinen Romanen mit Klischees jongliert und diese wider allgemeine Erwartungen einsetzt: Nicht der Weisse wird hier zur existentiellen Bedrohung eines Quartierladens, sondern ein Schwarzer. Und dieser Sportler entspricht auch überhaupt nicht dem klassischen geldgierigen Kapitalisten, sondern er will sein Vermögen für die Rettung von schwarzem Kulturgut einsetzen. Als Lesende wird man also immer wieder von neuen Wendungen überrascht. Und staunt über die Fülle an Ideen: Der Roman ist zugleich Familiensaga und Liebesgeschichte, Gesellschaftsroman und Jazz-Hymne.

Für den in Berkeley lebenden Michael Chabon bedeutet «Telegraph Avenue» so etwas wie ein Heimspiel. Nach etlichen Büchern, die an exotischen Schauplätzen oder in vergangenen Zeiten spielten, sehnte er sich nach einem Roman, für den keine grossen Recherche-Reisen nötig waren. Was also lag näher, als die Handlung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft anzusiedeln, zumal die echte Telegraph Avenue ja selbst schon Geschichte geschrieben hat. Hier begannen in den 60er-Jahren die ersten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg. Und auch die Hippie-Bewegung und das «Black Panter Movement» sollen auf diesen sechs Kilometern ihren Anfang genommen haben.

Fasziniert von Jazz-Musik

Vertraut ist Michal Chabon aber nicht nur die Kulisse, sondern auch die Leidenschaft von Archie und Jaffe: Auch der Autor ist grosser Fan von Jazz, Soul und Funk aus den 70er-Jahren, und er machte sich mit diesem Stoff – wie er gesteht – selber ein Geschenk: «Endlich hatte ich eine Entschuldigung, mich über Monate mit Jazzlegenden zu beschäftigen, leidenschaftliche Platten-Sammler zu besuchen und mich noch näher mit dieser ganzen Materie zu beschäftigen.»

So ist der Roman «Telegraph Avenue» durchtränkt von diesem Sound – und mutet beim Lesen zuweilen selbst wie eine Jazz-Performance an: manchmal chaotisch, ausufernd und verwirrend, dann wieder melancholisch und tiefsinnig oder überbordend, leicht und zum Lachen komisch. Ein Kritiker der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» jubelte: «Eine solche Mischung aus Musik-und Sozialgeschichte hat es noch nicht gegeben.» Und «Die Zeit» setzte noch einen drauf mit dem Fazit: «Ein Roman zum Niederknien.»

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