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Literatur Wenn Walter Kempowski nach Plankton fischt, ist das Kunst

8000 Antworten, gesammelt in 50 Jahren und nach dem Zufallsprinzip angeordnet, das ist Walter Kempowskis «Plankton». Und die Fragen? Die sind die Kunst. Nach «Echolot», Kempowskis grosser Erinnerungs-Collage zum Zweiten Weltkrieg, wird «Plankton» jetzt aus dem Nachlass veröffentlicht.

Fragen über Fragen: «Erinnern Sie sich an ein Foto aus Ihrem Leben? Haben Sie mal einen Prominenten gesehen? Erinnern Sie sich an eine Brücke? Haben Sie Hitler gesehen?» – Fragen über Fragen. 4 aus über 25, die Walter Kempowski gestellt hat. Immer wieder in fast 50 Jahren, bei jeder Gelegenheit, auf der Strasse oder in der Bahn, in Gesellschaften oder bei zufälligen Begegnungen im Hotel.

Fragen muss man können und sammeln auch. Walter Kempowski konnte beides. Er war ein manischer Sammler und leidenschaftlicher Frager. «Plankton fischen», nennt er das, wenn er mal wieder vor die Tür geht, um seine Fragen zu stellen. Nach den Eltern, den Kriegserfahrungen, nach Spielzeug, nach einem Gedicht, oder der ersten Erinnerung.

Ein süchtig machender Sog

Das klingt banal, wie das Klischee es will, über den Mann aus Nartum, der mal Dorfschullehrer war und Häftling in Bautzen, bevor er mit seinen Romanen «Tadellöser und Wolff» und «Uns geht’s ja noch gold» berühmt wird. Es klingt banal, aber das täuscht. Es braucht ein Mikroskop, um die Lebenswelt unter Wasser zu erfassen, den «Schwarm» der Erinnerung, von dem Kempowski spricht.

Buchhinweis

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Walter Kempowski: «Plankton. Ein kollektives Gedächtnis», Knaus Verlag, 2014.

In schwarzer Kladde und auf fliegenden Zetteln hat er die spontanen Antworten auf seine harmlos klingenden Fragen notiert. Jetzt zieht der Schwarm der Erzählteilchen über die Seiten und entwickelt einen Sog, der manchmal süchtig macht.

Nach dem Zufallsprinzip

Verschwunden ist der Autor. Und die Literatur eigentlich auch. Es gibt nur das Personal der Texte selbst und oft das Geburtsdatum. Alles anonym. Angeordnet nach dem Zufallsprinzip. Titel wie «Ein Mann, 1940/Ärztin, 1961/Architekt, 1959/Eine Frau». Ergänzt durch ein Stichwort, «Prominenz» etwa, oder «Brücke» und «Zweiter Weltkrieg».

So tritt das Triviale unmittelbar neben das Merkwürdige, die grossen Daten neben die kleinen Vorkommnisse. Ein Historiker erinnert sich an Golo Mann in der Aula der Münchener Universität und an seine «akkurat gescheitelte Frisur». «Ist er das wirklich?», stutzt eine Frau, als sie zufällig dem Schauspieler Karlheinz Böhm begegnet, oder doch nicht. Unter dem Stichwort «Voodoo» spricht eine Verhaltensforscherin über ihren Zufallsfund: das Foto mit Stecknadeln durchsteckt, das in einer Pfütze liegt. Ein Fluch! – Und ein Gedächtnis-Blitz.

Es gibt Erinnerungsreste von Gedichten und Schlagern, Reiseszenen und Fotos aus der Kindheit. Auch vom Krieg ist viel die Rede. «Das Allerprivateste ist auch das Allgemeinste», ist Kempowskis Leitgedanke. Mehr als ein Aufmerken gibt es da oft nicht beim Lesen. Aber es gibt auch den überraschenden Fund, die Abschweifung der Gedanken und ein Gefühl von Freiheit dabei.

Konservativ und avanciert

Porträt von Kempowski. Er trägt Anzug und Krawatte, unscharf im Hintergrund stehen Pflanzen.
Legende: Walter Kempowski sammelte sprachliches Kleinod, das Einblick gibt in die deutsche Gesellschaft. Reuters

Walter Kempowski ist kein naiver Autor. Eher das Gegenteil. Populär ist der Sound seiner Romane, populär auch die Verfilmungen seiner «Deutschen Chronik». Aber er benutzt früh Dokumente und die Techniken der Montage. Sein Debüt «Im Block», über die Haftzeit in Bautzen, setzt er aus kleinsten Erinnerungsmomenten zusammen. «Haben Sie Hitler gesehen?», fragt er und erregt schon damals international Aufsehen mit den Antworten.

«Ich hebe Erzählpartikel auf, wo immer ich sie finde», sagt er. Den ersten Computer benutzt Kempowski dafür schon Ende der 1980er-Jahre. Das Ergebnis sind unmittelbare Einblicke in die deutsche Gesellschaft. Gedächtnis-Miniaturen. Konservativ und avanciert zugleich ist Walter Kempowski der Einzelgänger unter den deutschen Schriftstellern. 2007 ist er gestorben.

Den Bauplan seines Gesamtwerkes hatte Kempowski auf ein Schaubild gezeichnet. Plankton ist darin die unterste Ebene, der Schwarm am Meeresgrund, die Basis für alles andere.

«Plankton» ist Nachlass und Work in Progress, und es ist ein Experiment. Auf www.kempowski-plankton.de kann das Buch fortgeschrieben werden. Die Fragen sind die gleichen, aber jetzt kann jeder sie stellen und beantworten. Der Zufallsgenerator übernimmt wieder die Mischung. Am Ende steht ein neues Buch, als Print-on-Demand. Das Buch für alle und jeden. Kempowskis schöne Idee.

Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 17.45 Uhr

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