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Literatur Wo Capotes Werk anfängt

Mit dem Büchlein «Wo die Welt anfängt» sind die allerersten Erzählungen des amerikanischen Schriftstellers Truman Capote zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht worden. Erzählungen, die die Leserin staunend zurücklassen. Sie sind für einen Teenager erstaunlich reif.

Rund 14 Erzählungen sind in dem schmalen Band vereinigt. Sie beschreiben verschiedenste Lebenssituationen: Ein kleiner Junge verliebt sich im Park in einen Hund, ein Mädchen träumt in der Schule davon, ein grosser Star zu werden, eine Frau wartet sehnsüchtig auf ihren Geliebten. Die Palette ist gross. In «Wo die Welt anfängt» findet man romantische Träumereien und grausame Szenen, Naturbeschreibungen und actiongeladener Realismus, einfühlsame Porträts und bitterböse Karikaturen.

Zu den bitterbösen Karikaturen gehört beispielsweise die Geschichte «Seelenverwandte». Bei einer Tasse Tee unterhalten sich zwei Frauen über einen möglichen Mord an ihren Ehemännern. «Es ist doch schliesslich jämmerlich und sinnlos, sich an einen Mann zu verschwenden», sagt die eine. Beide Frauen werden wunderbar proträtiert: «Mrs. Rittenhouse hockte steif auf einem zerbrechlich wirkenden Stuhl und rührte unablässig in ihrer Teetasse mit einer Zitronenscheibe. (…) Ihr Gesicht … schien sich mit einer einzigen gebeutelten Miene zu begnügen.» Mrs. Rittenhouses Seelenverwandte sitzt ihr gegenüber: «Mrs. Green und ihre gut neunzig Kilo nahmen den luxuriösen Grossteil eines dreisitzigen Sofas ein. Sie hatte ein grosses, grobes Gesicht, und ihre fast ganz ausgezupften Augenbrauen waren so grotesk nachgezogen worden, dass sie aussah, als hätte man sie in flagranti ertappt.»

Erstaunlich, mit welch spitzer Feder der junge Capote – damals ein Teenager – den Kern des Wesens der beiden Frauen trifft. Andererseits beweist er in der Geschichte «Miss Belle Rankin» grosse Einfühlsamkeit, wenn er eine alte, einsame Frau porträtiert, die den Tod vor Augen hat.

Distanz und Empathie zeichnen Capote aus

Capotes inhaltliche Vielseitigkeit spiegelt sich auch in Sprache und Stil wider. In manchen Geschichten versucht er sich beispielsweise an verschiedenen journalistischen Formen, in anderen schwelgt er in sensiblen Beschreibungen. Hier kommt bereits Capotes besondere Fähigkeit zum Tragen: die Begabung, einerseits Distanz zu wahren und genau zu beobachten, andererseits mit grosser Empathie die Gedanken und das Verhalten seiner Figuren nachzuzeichnen.

Allerdings haben alle Geschichten einen gemeinsamen Nenner: stets geht es um vernachlässigte, einsame Menschen, auf der Suche nach Verständnis und Geborgenheit. Da hat Capote aus seiner eigenen Erfahrung geschöpft: Früh von der Mutter verlassen, bei Tanten abgestellt, war er Zeit seines Lebens ein verletztes Kind, das sich ungeliebt fühlte.

Buchhinweis

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Truman Capote: «Wo die Welt anfängt». Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Kein und Aber, 2015.

Nur eine Fussnote in der Literaturgeschichte?

Natürlich sind die vorliegenden Erzählungen erste Fingerübungen eines beginnenden Schriftstellers. Wie ein Kritiker gesagt hat, ist «Wo die Welt anfängt» lediglich eine «Fussnote in der Literaturgeschichte zu Capote». Seine späteren Werke sind viel differenzierter und ausgefeilter.

Aber vergessen wir nicht: Wir sprechen von den Erzählungen eines Teenagers. Capotes erstaunliche Leistung besteht darin, dass er schon so früh vermochte, seine persönlichen Gefühle in allgemeingültige Geschichten einzubetten. In Geschichten, die heute genauso aktuell sind wie vor bald 80 Jahren, als sie geschrieben wurden. Weil sie von Einsamkeit und der Suche nach Nähe und Geborgenheit erzählen.

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