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Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer über das «Adagietto»
Aus Sternstunde Musik vom 23.08.2015.
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Weltklasse – Sommerkonzerte «Adagietto» – Gustav Mahlers langsame Erfolgsgeschichte

Das «Adagietto» aus der 5. Sinfonie von Gustav Mahler wurde jahrzehntelang kaum aufgeführt, dann aber zum Hit – dafür sorgte Luchino Viscontis Film «Tod in Venedig» von 1971. Warum Mahlers Musik in der Neuzeit stark bewegt, lässt sich an diesem Stück ablesen.

Sie sind bei Interpretinnen und Dirigenten mässig beliebt: die Lieblingsmelodien der Massen. Ausgelatschte Pfade mit neuem Ansatz zu betreten, ist eine Herausforderung. Dabei zu wissen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit die immer gleichen Bilder beim Publikum im Kopf ablaufen, hilft kaum.

Mahler am Lucerne Festival

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Radio SRF 2 Kultur übertrug das Konzert am Am Lucerne Festival am 19.8.2015 in der Sendung Weltklasse. Sternstunde Musik zeigte am 19.8. die Aufführung von «Des Knaben Wunderhorn» mit Matthias Goerne und am 3.8. die Sinfonie Nr.5. Beide Konzertmitschnitte sind online abrufbar.

Im Fall des «Adagietto» aus Mahlers 5. Sinfonie sind es jene Bilder: Der Blut schwitzende Aschenbach im Liegestuhl des Lido von Venedig. Sein Ableben am Strand mit dem flirrenden Horizont über der Lagune. Der Abschiedsgruss des überirdisch schönen Tadzio, dem Objekt seiner Begierde.

Katalysator Visconti

Regisseur Luchino Visconti stilisierte für seine cineastische Version von «Tod in Venedig» (1971) Thomas Manns tragischen Dichter Aschenbach um, indem er ihm die Züge Gustav Mahlers gab. 100 Jahre nach Mahlers entnervter Äusserung – niemand verstehe die verfluchte 5. Sinfonie – wird so sein Werk dank der jüngeren Filmgeschichte zelebriert und geliebt.

Ohne Viscontis cineastisch brillante, melodramatische Stilisierung von Begehren und Tod wäre das «Adagietto» kaum dermassen zur Schnulze verkommen. Was es eigentlich gar nicht ist. Denn die Interpretation macht den Unterschied, wie die Schweizer Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer einleuchtend zeigt.

Biografisches Schmiermittel

Spekulationen um biografische Verstrickungen des Komponisten helfen bei der Überhöhung von Tondichtungen. Bis in kleinste Details wurde beschrieben, wie im «Adagietto» metaphysische und sexuelle Umklammerung zu Musik werden. Immerhin entstand diese Komposition kurz nach Mahlers grösster Lebenskrise. Geschockt von seinem gesundheitlichen Zusammenbruch, der ihn an den Rand des Todes brachte, fand er zurück ins Leben.

Die aufflammende Zuneigung zu Alma war eine regelrechte Auferstehung. Der Komponist heiratete, wurde Vater. Noch bequemer kann man nicht eingeladen werden zur Deutung: Dieser 4. Satz der 5. Sinfonie kann nichts anderes sein als eine Liebeserklärung. Oder sich verzehrende Begierde. Oder der Hauch der Ewigkeit. Deshalb erklingt Mahlers Musik oft an Abdankungen. Wenn auch selten – wie im Falle Bobby Kennedys – von Leonard Bernstein persönlich dirigiert.

Ästhetik der Zerrissenheit

Innerhalb der wuchtigen 5. Sinfonie hat das «Adagietto» eine starke Funktion: Es hält die Zeit an, bevor das Rondo als letzter Satz in frenetische Bewegung und Dynamik übergeht. Hier liegt wohl ein Schlüssel für die begeisterte Rezeption dieses Tongedichts in der Neuzeit; dies dokumentieren die Fanbekenntnisse im Web.

Mahler war vernarrt in Volksweisen, und er liess in seinen Werken elegischen Schönklang und Polyphonie bis zum Rand der Atonalität aufeinanderprallen. Damit brachte er die auseinanderstrebenden Kräfte seiner Zeit grandios zusammen. Mit der neuzeitlichen Erfahrung der gottfernen, bis zur Überforderung vielschichtigen Moderne finden wir – offene Ohren vorausgesetzt – in Mahlers Sinfonien eine überraschende Heimat. Oder mindestens einen emotionalen Ankerplatz in der Nähe von einem, der sich aus stürmischen Gewässern hierher gerettet hatte.

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