Kirkenes, Norwegen, am dunkelsten Tag des Jahres. Die kleine Hafenstadt, fast 2000 Kilometer nordwestlich der norwegischen Hauptstadt Oslo, wirkt an diesem Tag wie eingefroren – kein Wunder eigentlich: denn das Thermometer ist am Morgen auf unter -25 Grad gesunken. Über der eisfreien Barentssee liegen kleine, feine Nebelschwaden.
Die stille des dunklen Meeres und das Glockengeläute der nahen Kirche vermitteln dem einsamen Besucher an diesem Tag den Eindruck, er befinde sich am Ende der Welt. Dabei sorgt der wärmende Golfstrom dafür, dass Kirkenes ebenso wie das nahe Murmansk in Russland das ganze Jahr über eisfrei bleibt – und Kirkenes zum natürlichen Ausgangspunkt für die nördliche Seeroute von Europa nach Asien macht.
«Die nördliche Seeroute ist offen – und wird von der russischen Eisbrecherflotte zwischen Mai und Ende November unterhalten», erklärt Björn Gunnarsson, der Leiter der High North Alliance. Es ist der neugegründete internationale Verband für die nördliche Seeroute.
Ein eisfreies Nordpolarmeer
Der Isländer steht vor einer riesigen Karte in seinem Büro am Hafen von Kirkenes und blickt auf eine Weltregion, die bis vor kurzem eine «Terra» und «Mare incognita» war – und von der Sowjetunion und später von Russland wie ein Schatz gehütet und bewacht wurde.
Doch das hat sich nun grundlegend geändert: «Jedes Jahr gibt es weniger Eis entlang der nördlichen Seeroute und bis in wenigen Jahrzehnten, bis 2030 oder 2040, dürfte das Nordpolarmeer im Sommer gänzlich eisfrei sein», hält Gunnarsson fest. Er hofft deshalb auf einen Seeweg, der die Distanz zwischen Nordeuropa und China fast halbiert.
«Jetzt sind wir plötzlich mittendrin»
Gerade einmal drei Jahre sind vergangen, dass ein Frachtschiff die gut 6000 Kilometer lange Route durchfuhr. Im letzten Jahr waren es dann schon über 30 Schiffe, in diesem Jahr über hundert. «Eine unglaublich spannende Sache», findet Rune Rautio vom lokalen Gewerbeverband in Kirkenes, einer Stadt mit gut 10'000 Einwohnern.
Und: «Wir waren lange ein verschlafener Ort am Rande, jetzt sind wir plötzlich mitten drin» sagt Rune Raution und betont, «dass die nördliche Seeroute nicht in erster Linie für den Transit von Bedeutung ist, sondern für die Erschliessung der an Rohstoffen sehr reichen Küste Nordsibiriens».
Da überrascht es nicht, dass sich in den letzten zwei Jahren vor allem Logistik-Dienstleister in Kirkenes etabliert haben. Nachdem die Grenzgemeinde über Jahrzehnte hohe Arbeitslosenziffern aufwies, fehlt es nun an Arbeitskräften. Es pendeln nun gar Fachleute aus dem fernen Oslo ans Eismeer.
In Kirkenses ist nun auch Russisch zu hören
Die schnelle Entwicklung und Öffnung löst bei der Ortsbevölkerung aber auch Ängste aus, räumt der Rautio ein: «Die Grenz- und Abschottungsmentalität des letzten Jahrhunderts können wir natürlich nicht so schnell ablegen, aber die bisherigen Erfahrungen mit der Öffnung nach Osten sind fast ausschliesslich positiv.» In Kirkenes wird nun neben den traditionellen Sprachen Norwegisch und Samisch vielerorts auch Russisch gesprochen.
Für Rune Rafaelsen, den Leiter des Barentssekretariates, dem vor 20 Jahren gegründeten regionalen Kooperationsorgan zwischen Norwegen und Russland, hat die Öffnung der Nordostpassage vor allem mit der Energiefrage zu tun: «Seit diesem Sommer wird norwegisches Erdgas per Schiff über die Nordostpassage nach Japan exportiert, wo gegenwärtig der Ausstieg aus der Kernenergie vorbereitet wird.»
Rune Rafaelsen räumt aber auch ein, dass die Nordostpassage nie die längere Route über den Suezkanal ersetzen wird, sondern in erster Linie für die Entwicklung der Arktis selbst als Lebens- und Wirtschaftsraum von Bedeutung ist.
Kommt hinzu, dass die nördliche Seeroute auch in Zukunft so wie jetzt mitten im Winter nur zu Kosten offengehalten werden kann, welche eine wirtschaftliche Nutzung kaum erlauben wird – was dem in den anderen Jahreszeiten so regen Hafen von Kirkenes eine Art Winterschlaf verschafft.