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80 Jahre Reichspogromnacht
Aus SRF News vom 09.11.2018.
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80. Jahrestag der Pogromnacht Das Wetterleuchten für den Holocaust

Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Es war der Prolog zu einem Menschheitsverbrechen. Einige der letzten Zeitzeugen erinnern sich.

In ganz Deutschland brannten heute vor 80 Jahren die Synagogen. Am Tag danach begann der Abbruch der jüdischen Gotteshäuser. Wenige Jahre später begann der Holocaust, bei dem sechs Millionen Juden getötet wurden. Zeitzeugen gibt es nur noch wenige. Am Donnerstagabend sprach einer von ihnen in Leipzig:

Unabhängig davon, wie weit von uns entfernt die Pogromnacht ist, spüren wir das damalige Feuer bis heute. Noch immer verbrennt es unsere Herzen.

Es spricht Küf Kaufmann, der Vorsitzende der israelitischen Gemeinde in Leipzig. Er stammt wie viele Juden in Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion. Deutsche Juden gibt es auch heute in Leipzig nicht so viele. Die Botschaft aus dieser Zeit vor 80 Jahren laute, so Küf Kaufmann: «Vergiss es nicht! Und wir werden diese Nacht nie vergessen.»

Eine Schreckensbilanz

«Reichskristallnacht» nannten die Nationalsozialisten das Pogrom, als ob bloss einige Kristallgläser reicher Juden in die Brüche gegangen seien. Der Dresdner Historiker Daniel Ristau hat sich mit der Nacht im Detail befasst.

Er zieht Bilanz: «Ungefähr 30'000 Männer wurden verhaftet und in die Konzentrationslager gebracht. Direkt Opfer der Pogrome wurden rund 400 Menschen.» Unzählige mehr starben in der Folge in Konzentrationslagern, rund 1400 Synagogen und mehrere tausend Geschäfte wurden zerstört.

Bronzene Stuhlreihen
Legende: Leere, bronzene Stühle als Denkmal für die zerstörte grosse Gemeindesynagoge an der Gottschedstrasse in Leipzig. SRF/Peter Voegeli

Rolf Isaacsohn, Ehrenvorsitzender der israelistischen Gemeinde, hat die Ereignisse als Fünfjähriger miterlebt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November erwacht er, weil es draussen lärmt: «Ich stehe auf und sehe, wie meine Mutter am Küchenfenster steht.» Die Erinnerungen sind bruchstückhaft. Dumpfe Schläge, klirrendes Glas, Dunkelheit.

Wenn der Nachbar einfach verschwindet

Am nächsten Morgen späht Isaacsohn hinter den Gardinen nach draussen. «Meine Mutter warnte mich noch: Mach nicht so mit den Gardinen rum, das muss niemand sehen, dass wir in der Wohnung sind!» Auf der anderen Strassenseite sah er den Hausmeister.

«Der Herr Gewürzmann, ein grosser, kräftiger Mann. Ich sah, wie er aus dem Haus gezerrt und in ein Auto verfrachtet wurde. Dann war er weg.» Der Hausmeister sei nie wieder aufgetaucht. «Erst sehr viel später haben wir erfahren, dass seine Urne auf unserem Friedhof beigesetzt worden ist.»

Rolf Isaacsohn
Legende: Der 85-jährige Ehrenvorsitzende der israelitischen Gemeinde zu Leipzig, Rolf Isaacsohn, hat die Pogromnacht von 1938 als Fünfjähriger erlebt. Er steht vor einem Bild eines ausgebrannten, jüdischen Kaufhauses. SRF/Peter Voegeli

Später geht Isaacsohn mit seiner Mutter zur ausgebrannten Synagoge in der Gottschedstrasse: «Eine riesige Menschenmenge stand an der Kreuzung. Stille, Ruhe, keine Schreie, nichts. Trotzdem war es sehr beklemmend.» Am Nachmittag sehen sie, wie Juden am Grund eines gemauerten Kanals des Flüsschens Parthe zusammengetrieben werden.

Im Gegensatz zur schweigenden Menschenmenge bei der Synagoge sei es dort sehr laut gewesen, so Isaacsohn: «Oben am Ufer des Flusses standen zwanzig, dreissig Leute, die die Menschen unter ihnen mit Schmährufen eingedeckt haben.»

Transparent an Flussufer
Legende: «Mein Leipzig» steht auf deutsch und hebräisch am Ufer eines schmalen Flusses, wo 1938 Juden zusammengetrieben und beschimpft wurden. SRF/Peter Voegeli

Anneliese Schellenberger, eine Deutsche, Tochter eines inhaftierten Kommunisten, sieht in der Nacht vom 9. November an der Hand ihrer Mutter an einer Strassenbahnhaltestelle eine brennende Gebetshalle bei einem jüdischen Friedhof: «Meine Mutter sagte, dass man doch etwas tun müsse, man müsse doch die Feuerwehr rufen. Die Leute standen aber nur herum und sagten, dass es doch nicht ihr Haus sei.»

Eine durchorganisierte Aktion

Im Sprachgebrauch der Nazis war der 9. November ein spontaner Volkszorn, weil ein jüdischer Student einen deutschen Diplomaten in Paris erschossen hatte. Historiker Daniel Ristau verweist diese Interpretation ins Reich der Propaganda: «Es war auf keinen Fall spontaner Volkszorn.»

Die Bevölkerung habe zwar zugeschaut, vielleicht auch sympathisiert, auch teilweise geplündert. «Es war aber eine von Staat und Partei organisierte Aktion.» Polizei und Feuerwehr aber schauten auf Anweisung von oben weg, löschten nicht die Brände, sondern verhinderten bloss ein Übergreifen der Flammen auf andere Häuser. Bereits ab dem 10. November begann der Abriss der ausgebrannten Synagogen.

Kopie einer alten Zeitungsannonce
Legende: An dem Tag, nachdem die Synagogen in Deutschland brannten, begann der Abriss der jüdischen Gebetshäuser. Und die Steine wurden verkauft, wie eine Zeitungsannonce von damals belegt. SRF/Peter Voegeli

Auch Shlomo Samson hat als 15-Jähriger die Pogrome erlebt, er floh in die Niederlande, kam später ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, überlebte, emigrierte 1946 nach Palästina und lebt seither in einem Kibbuz «Am 10. November hat man 10'000 Juden in die Lager gebracht. Ohne Grund. Nur weil sie Juden waren», sagt er. Manche überlebten, viele kamen nie mehr zurück und starben in Konzentrationslagern.

Shlomo Samson
Legende: Der 95-jährige Shlomo Samson hat die Pogromnacht in Leipzig erlebt, wurde später ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Er überlebte den Holocaust und wanderte 1946 nach Israel aus, wo er in einem Kibbuz lebt. Trotz allem besucht er immer wieder seine Heimatstadt: «Leipzig bleibt Leipzig», sagt er. SRF/Peter Voegeli
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80. Jahrestag der Reichspogromnacht
aus Echo der Zeit vom 09.11.2018. Bild: SRF. Peter Voegeli
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Shlomo Samson berichtet, wie Familien an vermeintliche Überreste ihrer Angehörigen kamen: «Dort stand einer mit einer Schippe und hat Asche in einzelne Kartons gefüllt. Man konnte die Asche für zehn Mark kaufen. Es war natürlich nicht die Asche eines Familienangehörigen.»

Das Unfassbare für viele Juden war: Sie waren nicht Fremde, sie waren Deutsche. Die Familie von Samsons Frau lebte seit Jahrhunderten in Köln: «Sie hatte einen Stammbaum, der auf das 16. Jahrhundert zurückgeht.»

Es hat mir die Kehle zugeschnürt, wenn mir auf der Strasse ein älterer Herr entgegenkam. Ich habe geschaut, ob es einer aus der SS von Bergen-Belsen ist.
Autor: Shlomo Samson Holocaust-Überlebender

Samsons Frau, die Auschwitz überlebt hatte, ging nie wieder nach Deutschland, sprach mit den Kindern aber deutsch, damit diese eine gemeinsame Sprache mit ihren Grosseltern hatten. Samson wiederum weigerte sich mit den Kindern deutsch zu reden, kehrte aber immer wieder nach Deutschland zurück.

Weiterleben im Land der Peiniger?

Obwohl es anfänglich schwer war: «Es hat mir die Kehle zugeschnürt, wenn mir auf der Strasse ein älterer Herr entgegengekommen ist. Ich habe geschaut, ob es einer aus der SS von Bergen-Belsen ist. Es war mir schrecklich schwer.»

Warum reist Samson immer wieder nach Deutschland? «Ich habe verschiedene Fächer: Nazis sind Nazis, andere sind andere. Ausserdem: Die Leute die hier heute rumlaufen, das ist die dritte, vierte Generation.»

Wir gehören hier her und wir lassen uns nicht vertreiben.
Autor: Rolf Isaacson Israelitische Gemeinde Leipzig

Und wenn der AfD-Parteichef Alexander Gauland Hitler nur als Vogelschiss der tausendjährigen Geschichte Deutschlands bezeichnet? «Dazu muss ich sagen, dass ich heute nicht in Deutschland lebe», antwortet Samson. Seit 72 Jahren lebt er mittlerweile in Israel. Vielleicht erklärt das die folgende Aussage: «Es gibt Redefreiheit. Man darf sagen...es gibt Sachen, die einen wütend machen. Was kannste machen?»

Samson glaubt an eine höhere Macht. Nach 2000 Jahren jüdischem Exil sei nur drei Jahre nach dem Holocaust, 1948, der Staat Israel gegründet worden. Und Rolf Isaacsohn, der in Leipzig geblieben ist? Wie sieht er die Situation in Deutschland heute. «Nicht so kritisch, wie manche sie sehen. Viele Leute sagen, man solle doch nach Israel auswandern. Sie fragen, was man denn noch in Deutschland wolle.» Er, und alle die er kenne, seien aber einer Meinung: «Wir gehören hier her und wir lassen uns nicht vertreiben.»

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