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Flutkatastrophe Deutschland: «Wir wissen nicht, wie wir im Alarmfall reagieren sollen»
Aus Echo der Zeit vom 21.07.2021. Bild: Imago
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Apps und SMS reichen nicht Deutschland zieht die Lehren aus der grossen Flut

Wenn Jahrhundertereignisse zur Gewohnheit werden: Einsichten eines Veteranen des deutschen Katastrophenschutzes.

Albrecht Broemme war von 2006 bis Ende 2019 Präsident des Technischen Hilfswerks (THW). Einer Organisation mit 1800 professionellen und 80'000 freiwilligen Helfern, einem Budget von 460 Millionen Euro und einer Top-Ausrüstung. Der Mann weiss, wovon er redet: «Früher konnte man sagen, das war ein Jahrhundertereignis. Wenn ich zähle, wie viele Jahrhundertereignisse ich schon erlebt habe, müsste ich schon 2000 Jahre alt sein.» Denn das nächste Hochwasser könne bereits im Herbst drohen.

Vor allem die Zahl der Toten gibt Broemme zu denken. Eine ähnliche Grössenordnung sei letztmals 1962 durch die Nordseeflut in Hamburg zu beklagen gewesen. Doch alles, was bisher gegolten habe, gelte heute nicht mehr. Selbst erfahrene THW-Experten, die im Unwettergebiet wohnten, seien völlig überrascht worden und hätten die Lage falsch eingeschätzt.

Vergiss alle bisherigen Erfahrungen. Es kann fünf oder zehn Mal so schlimm werden.
Autor: Albrecht Broemme Ehemaliger Präsident des THW

Broemmes Erkenntnis aus dem verheerenden Tief Bernd: «Man kennt Schmelzhochwasser, Flusshochwasser, Starkregenhochwasser. Man muss sich aber im Klaren sein: Vergiss alle bisherigen Erfahrungen. Es kann fünf oder zehn Mal so schlimm werden.» Was auch immer die Ursache sein möge, dies sei eine der wichtigsten Erkenntnisse.

Wissen, was im Ernstfall zu tun ist

Deutschland sei vielleicht für solche Ereignisse technisch gerüstet, sagt Broemme, aber nicht vorbereitet. Das führt zur Frage, die in diesen Tagen in Deutschland heiss diskutiert wird: «Wer ist schuld?». «Der Regen», sagt Broemme lakonisch. Doch wer ist schuld, dass die Warnkette nicht funktioniert hat, bis zu den einzelnen Leuten, die hätten fliehen müssen? «Es sind Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass sie in Gefahr sind. Wir müssen eine Riesenaufklärungskampagne machen: Jeder Mensch muss wissen was zu tun ist, wenn die Sirene heult.»

Die Unwetterwarnungen der europäischen und deutschen Wetterdienste seien korrekt gewesen, an die Kreise und Kommunen weitergeleitet worden, so Broemme. «An dieser Stelle wird's diffus: Was haben die Kreise mit der Meldung gemacht, haben sie diese an die Bevölkerung weitergegeben, und wenn ja, wie?» Teils fuhr die Feuerwehr durch Dörfer und warnte, teils geschah dies nicht. Während in Japan jeder weiss, was bei einem Erdbeben zu tun ist, sei das Wissen wie im Krisenfall reagieren in Deutschland verloren gegangen.

Rettungskräfte sind nach dem Hochwasser in Marienthal in Rheinland-Pfalz im Einsatz, 21.07.2021.
Legende: Das Wasser zieht sich langsam zurück. Nun geht es in den Hochwassergebieten im Westen Deutschlands zunächst ums Aufräumen und dann um den langfristigen Wiederaufbau. Keystone

Broemme veranschaulicht dies an einem plastischen Beispiel: «Sie liegen nachts im Bett und hören die Alarmanlage eines Autos. Was machen Sie? Der Sinn ist doch, dass Sie und die Nachbarn auf die Strasse gehen und schauen, ob da gerade ein Auto gestohlen wird.» Tatsächlich würde das aber keiner machen. «Man hofft, dass die Alarmanlage möglichst bald wieder ausgeht. Wir sind überflutet von Tönen – Hinweistönen, Alarmen etc. und reagieren nicht.»

Aufklärung, Freiwillige und moderne Sirenen

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Legende: Albrecht Broemme Ende letzten Jahres in Berlin. Keystone

Deutschland müsse sein enormes Potenzial von Freiwilligen nutzen, zur Ausbildung der Bevölkerung: «Es gibt 80'000 Freiwillige beim THW, 1.2 Millionen Freiwillige bei den Feuerwehren und eine Million Freiwillige bei den Hilfsorganisationen. Das ist ein Riesenpotenzial, und diese Freiwilligen kann man auch als Multiplikatoren bei der Aufklärung verwenden, was bisher noch kaum gemacht wird.»

Und schliesslich: Warn-Apps, SMS reichten nicht. Es brauche wieder Sirenen, nicht die alten, sondern moderne, um die Menschen nachts zu warnen. Nicht jeder habe das Handy neben sich liegen. «Eine moderne Sirene ist höher und lauter, deswegen braucht man auch nicht so viele wie von den alten», erklärt Broemme. «Und sie kann auch Sprachdurchsagen machen. Zudem hat sie eine eigene Batterie oder Akku, sie funktioniert also auch, wenn das Strom- oder Telefonnetz weg ist und sie wird vom Satelliten aus angesteuert. Egal, was auf dem Boden los ist, sie funktioniert.»

Wie schlimm das Ausmass des Unwetters ist, zeigt sich an der Prognose, wann wieder einigermassen Normalität einkehren wird. Broemme schätzt: «Eintreten von Normalität definiere ich daran, dass man das Wasser aus der Leitung wieder trinken kann, Strom hat, um auch Wasser abkochen zu können und dass man wieder telefonieren kann. Das wird in einigen Gegenden noch vier Wochen dauern.»

Bis die Infrastruktur wiederhergestellt ist, werde es Jahre dauern. Und sehr viel mehr kosten, als heute prognostiziert: «Ich bin erstaunt über irgendwelche Summen, die schon genannt werden. Ich habe gelesen, dass Behörden von mindestens zwei Milliarden Euro Aufbaukosten für die Infrastruktur sprechen. Wenn ich mir die Schäden aber nur schon anschaue, kann ich mir vorstellen: 20 Milliarden kommt der Sache schon näher.»

Echo der Zeit, 21.07.2021, 18 Uhr

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