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Autonomie der Kurden im Irak «Es riecht nach Bürgerkrieg in Kirkuk»

Irak und die Türkei reagieren mit Sanktionen auf das kurdische Referendum. Mit ungewissen Folgen, sagt Birgit Svensson.

Birgit Svensson
Legende: Birgit Svensson arbeitet als Journalistin und berichtet derzeit aus dem Irak. zvg

SRF News: Sie glauben, dass es ein Fehler war, dass die Kurden im Nordirak überhaupt über ihre Unabhängigkeit abgestimmt haben. Wie meinen Sie das?

Birgit Svensson: Die Kurden im Irak besitzen ja schon lange grosse Autonomie. Vier Provinzen im Osten des Landes sind ohnehin de facto wie ein eigener Staat mit eigenem Parlament, eigener Regierung von vor allem eigenen Grenzkontrollen. Iraker aus Bagdad, die nach Erbil reisen, mussten schon bisher ihre Pässe zeigen, sie wurden wie Ausländer behandelt. Anders ist es zum Beispiel für Europäer, wenn sie nach Erbil reisen. Sie erhalten einen Stempel für 30 Tage, während sie für Bagdad ein richtiges Visum brauchen.

Also: Die Kurden haben schon einen Staat im Staat. Das Problem ist, dass der Präsident Kurdistans, Massud Barsani, mehr will. Er will auch die zurückeroberten Gebiete, in denen die Peschmerga gegen den IS gekämpft hat, in die kurdischen Autonomiegebiete integrieren. Das ist der Knackpunkt, denn in den Gebieten liegen nicht nur die jesidische Stadt Sindschar und die christliche Stadt Karakosch. Dort liegt vor allem auch das ölreiche Kirkuk.

Sie sind jetzt zurück in Bagdad, sie hielten aber bis gestern im Kurdengebiet auf, in Kirkuk. Wie haben Sie die Abstimmung dort erlebt?

Ich war in einem Wahllokal, und innerhalb von 15 Minuten habe ich dreimal Wahlfälschung mit eigenen Augen gesehen: Leute stimmten mehrmals ab. Die Leute in Kirkuk sagten mir, dass das wohl gang und gäbe sei. Die fast 93 Prozent Zustimmung kommen also nicht von ungefähr. Im Vorfeld gab es auch massive Beeinflussung. TV-Sender, die sich gegen die Unabhängigkeit stellten, wurden vom Netz genommen. Websites wurden geblockt. Auf Facebook gab es eine riesige Kampagne. Den Gegnern des Referendums wurde gesagt, «wenns euch nicht passt, dann haut doch ab». «Wie zu Saddams Zeiten» fanden das manche Leute in Kirkuk. Ein Witz von damals machte die Runde: «Weshalb war Saddams Wahlresultat immer 99,9 Prozent? Weil er nicht für sich selbst stimmen konnte.»

Das heisst, unabhängige Wahlbeobachter waren nicht vor Ort?

Zumindest nicht in Kirkuk. In Erbil waren wohl einige. Sie durften aber auch nicht in alle Wahllokale, sondern nur in bestimmte, die ihnen zugeschanzt wurden. Kirkuk ist eine multiethnische Stadt. Da leben Kurden, Turkmenen und Araber. Die Turkmenen und Araber hatten zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. In ihren Vierteln waren die Strassen und die Wahllokale leer. Von über 70 Prozent Wahlbeteiligung zu sprechen, wie es die Behörden tun, ist ebenso eine Farce.

Der irakische Premier Haidar al-Abadi hat angekündigt, Truppen nach Kirkuk zu senden. Was kommt da auf die Bewohner zu?

Ich muss ganz ehrlich sagen, es riecht nach Bürgerkrieg in Kirkuk. Es war eine ganz komische, höchst angespannte Stimmung. Man hat Angst, denn die Leute dort wissen, wenn die Situation eskaliert, ist Kirkuk der Brennpunkt. Zumal 50 Kilometer südlich von Kirkuk die irakische Armee – übrigens zusammen mit der Peschmerga – gegen den IS kämpft und versucht, Ortschaften zurückzuerobern.

Es geht um die totale Isolation. Man möchte Barsani zeigen, dass Kurdistan keine Insel ist.

Die irakische Luftfahrtbehörde hat angeordnet, dass ausländische Airlines das Kurdengebiet nicht mehr anfliegen dürfen. Was soll das bezwecken?

Es geht um die totale Isolation. Man möchte Barsani zeigen, dass Kurdistan keine Insel ist. Er hat Rücksicht zu nehmen auf die Nachbarstaaten, aber vor allen Dingen auf Bagdad. Er soll merken, dass er alleine nicht überlebensfähig ist.

Auch die Türkei hat den Kurden im Nordirak gedroht. Was genau kann die Türkei unternehmen, um den Kurden zu schaden?

Das Verhältnis zur Türkei ist interessant. Eigentlich hatte sich Barsani mit den Türken ausgesöhnt. Vor vier Jahren fuhr er demonstrativ nach Ankara und verbrüderte sich mit Erdogan. Er hat das kurdische Frühlingsfest dort mit ihm gefeiert, er hat eine Pipeline mit ihm vereinbart, durch die kurdisches Öl zu einem türkischen Mittelmehrhafen fliessen soll. Nun ist das Verhältnis völlig zerrüttet. Erdogan hat Angst, dass das, was Barsani macht, auch auf die Kurden in der Türkei hinüberspringen könnte, und diese auch mehr Autonomie haben wollen. Die Türkei hat sich deshalb nun auf die Seite Bagdads gestellt. Erdogan droht, den Ölhahn abzudrehen, so dass kein kurdisches Öl mehr exportiert werden kann. Auch dies ist eine Massnahme zur Isolation Barsanis.

Sehen Sie Anzeichen, dass dieser Druck auch Wirkung zeigt?

Erstmal wird der Boykott der internationalen Flughäfen durchgesetzt. Und wenn Barsani bei den neuen, umstrittenen Gebieten nicht nachgibt, werden weitere Sanktionen in Kraft treten. Lenkt er ein, ist eine Lösung in Sicht, sonst nicht.

Das Gespräch führte Salvador Atasoy.

Darum geht es bei dem Konflikt

Die Kurden im Norden Iraks wollen einen unabhängigen Staat bilden – Kurdistan. Bei einem Referendum am Montag sprachen sich fast 93 Prozent der Stimmenden dafür aus. Der Konflikt zwischen Bagdad und der Region Kurdistan spitzt sich deshalb zu; die Stimmung in der ölreichen, multiethnischen Stadt Kirkuk ist sehr angespannt. Die Zentralregierung in Bagdad will das Ergebnis der Abstimmung nicht akzeptieren. Auch die Türkei droht mit Sanktionen; die Folgen für die Kurdenregion sind ungewiss.

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