172 von 513 Abgeordneten müssen zu Dilma Rousseff halten, sonst ist das Absetzungsverfahren der brasilianischen Präsidentin offiziell eingeleitet. Heute entscheidet das Parlament in Brasilia darüber, ob Rousseff vom Thron gestürzt werden soll. SRF-Südamerikakorrespondent Ulrich Achermann erklärt die Situation.
SRF: Wie aussichtslos ist die Lage von Dilma Rousseff?
Ulrich Achermann: Es ist ziemlich hoffnungslos, auch wenn die Regierung heute verlauten liess, sie habe genügend Stimmen auftreiben können, um das Absetzungsverfahren scheitern zu lassen. Die Medien behaupten hingegen, dass die Opposition genügend Stimmen hat. Allerdings lassen sich etwa 60 Abgeordnete noch nicht in die Karten schauen.
Das Verfahren wird ja nicht mit Korruption begründet – womit dann?
Rousseff werden Manipulationen bei der Staatsrechnung vorgeworfen. Das ist eigentlich ein relativ harmloser Vorwurf, weil diese Praktiken bei allen Regierungen üblich waren. Das Absetzungsverfahren ist wohl gesetzeskonform, aber politisch nicht zu 100 Prozent legitim. Den rechtsgerichteten Politikern im Parlament ist jedes Mittel recht, um Rousseff und ihre Arbeiterpartei von der Macht zu verdrängen.
Strippenzieher ist Eduardo Cunha, der Präsident der Abgeordnetenkammer. Welche Ziele verfolgt er?
Eduardo Cunha ist ein Krimineller. Sein Name taucht immer wieder in Zusammenhang mit Schmiergeldzahlungen auf. Er besass sechs geheime Konten in der Schweiz und nun läuft ein Strafverfahren gegen ihn. Hätte die Regierung dafür gesorgt, dass ihm kein Prozess gemacht wird, dann hätte es dieses Amtsenthebungsverfahren wohl gar nie gegeben.
Lula da Silva ist noch immer der starke Mann hinter Dilma Rousseff. Hat er seinen Einfluss verloren, um Rousseff zu stützen?
Nein gar nicht. Lula wirbelt im Hintergrund. Er hat in einem Hotel in Brasilia Quartier bezogen und empfängt dort mehr oder weniger rund um die Uhr Abgeordnete. Solche, die man unter Druck setzten kann, oder solche, die sich mutmasslich kaufen lassen – mit Ämtern, Zuwendungen von der Regierung und dergleichen. Hinter verschlossenen Türen läuft bestimmt viel. Dass die Regierung heute sagt, sie habe genügend Stimmen beisammen, hat sicherlich damit zu tun.
Die Abstimmung im Abgeordnetenhaus am Sonntag ist ja bloss ein erster Schritt. Kann Rousseff noch auf den Senat hoffen?
Theoretisch ja, weil der Senat das Verfahren noch stoppen könnte. Aber in der kleinen Kammer sind heute die Mehrheiten gegen Rousseff klarer als in der Abgeordnetenkammer. Aber Lula wird mit allen Mitteln weiterkämpfen.
Die Bevölkerung ging bereits massenhaft auf die Strasse gegen Rousseff. Wie wahrscheinlich sind vorgezogene Neuwahlen?
Das wäre sicher die sauberste Lösung. Und wenn die Präsidentin tatsächlich abgesetzt werden sollte, ist es denkbar, dass sogar ihre eigene Partei Neuwahlen ins Spiel bringt – einfach um dem nachrückenden Vizepräsidenten ein Bein zu stellen. Doch selbst wenn Rousseff das Verfahren übersteht muss man sich fragen, wie sie ohne Mehrheiten weiterregieren kann. Rousseff betont zwar immer wieder, sie werde nicht zurücktreten, aber ich würde es trotzdem nicht ausschliessen.
Wer könnte denn Brasilien aus der Krise führen?
Es gibt am politischen Horizont in Brasilien kaum Kräfte, die erstens sauber sind und denen man zweitens zutraut, diese Aufgabe zu übernehmen. Das zeigt sich auch darin, dass in der ganzen Debatte über Dilma Rousseff überhaupt nie diskutiert worden ist, wie man Brasilien politisch neu aufstellen und die Korruption aktiv bekämpfen könnte.
Mehrere Schritte zur Amtsenthebung
1.) Abgeordnetenhaus: Zunächst war eine Sonderkommission gebildet worden, die die Vorwürfe prüfte. Die Kommission entschied, dass eine Amtsenthebung gerechtfertigt sei. Am 17. April entscheidet nun das Plenum, ob das Verfahren fortgeführt wird; zwei Drittel der Abgeordneten müssen dafür stimmen. Bei Verfehlen dieser Stimmenzahl wird das Verfahren eingestellt. |
2.) Senat: Stimmen die Abgeordneten dafür, bildet der Senat eine Kommission. Einer Empfehlung für eine weitere Fortführung des Verfahrens muss mit einfacher Mehrheit zugestimmt werden; das kann Ende April so weit sein. Dann wäre Rousseff für 180 Tage suspendiert. Vizepräsident Michel Temer würde dann als Staatsoberhaupt übernehmen. |
3.) Juristische Prüfung: Unter Federführung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs wird geprüft, ob die Vorwürfe juristisch so schwerwiegend sind, dass die Amtsenthebung gerechtfertigt wäre. Das soll höchstens ein halbes Jahr dauern. Bis Ende Oktober müsste der Senat sein endgültiges Urteil fällen. Stimmen zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtsenthebung, würde Interimspräsident Temer statt Rousseff das Amt voraussichtlich bis Ende 2018 ausüben. |