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Tourismusboom in Tschernobyl
Aus Echo der Zeit vom 14.08.2019. Bild: Keystone
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Das Dilemma von Tschernobyl Dichtestress in der Sperrzone

Einst galt sie als tödliche Region – seit einiger Zeit aber gilt Tschernobyl als Touristenattraktion.

Der Ort ist ein Symbol für die Gefahren der Kernenergie: das ukrainische Städtchen Tschernobyl. Im April 1986 explodierte der Reaktor Nummer 4 des örtlichen Atomkraftwerks. Es wurden riesige Mengen Radioaktivität freigesetzt – tausende Menschen starben.

Inzwischen ist der Unglückreaktor ein beliebtes Ziel für Touristen; es gibt einen eigentlichen Tourismusboom in Tschernobyl. Und die Kiewer Regierung will die schaurige Sehenswürdigkeit in Zukunft noch besser zugänglich machen – und besser vermarkten.

«Ich danke euch, dass ihr euch für diesen speziellen Trip angemeldet habt. Nicht alle getrauen sich – aber ihr seid dabei», sagt Reiseleiterin Irina Smirnowa ins scheppernde Mikrophon des Reisebusses. Eine bunte Truppe ist an Bord: Niederländer, Amerikaner und Deutsche. Die Welt fährt also auf Besuch nach Tschernobyl.

Tourguide vor Touristen.
Legende: Irina Smirnowa will den Touristen das Erlebnis Tschernobyl nahebringen. SRF

Während der Bus durch die Vororte von Kiew rollt, erklärt Smirnowa das Programm. Die Gruppe wird Checkpoints passieren müssen, um in die Sperrzone zu gelangen. Verlassene Dörfer, die verlassene Kleinstadt Pripjat, der Unglücksreaktor – all das liegt auf der Route von «Chernobyl Tour», wie der Veranstalter des Tagesausflugs heisst. Wer bei der Buchung ein extra Kästchen angekreuzt hat, bekommt zudem einen Geiger-Zähler, der ständig die Radioaktivität misst. Kostet: 10 Dollar extra.

Der Kiosk beim Check-Point.
Legende: Hier können noch Leckereien gekauft werden, bevor es in die Sperrzone geht. SRF

Die Stimmung auf der Tour ist entspannt, zuweilen lustig. Am Checkpoint zum Sperrgebiet vertritt man sich ein erstes Mal die Füsse. Wer will, bekommt an einem Kiosk Schokoriegel und Kaffee.

Der erste Stopp innerhalb der Zone macht aber deutlich, was sich hier für eine Tragödie abgespielt hatte. Mitten im Wald versteckt sich völlig zugewachsen ein verlassenes Dorf. Die Häuser sind teilweise eingestürzt. So sieht es wohl nach der Apokalypse aus. In einem Haus liegt stumm und staubig ein Stofftier auf einem Tisch. Als hätte ein Kind das Spielzeug nur kurz liegen gelassen und sei dann nie mehr zurückgekehrt.

Die Touristen sind beeindruckt: «Es ist sehr aufregend, hier zu sein», sagt Sam Budgusaim. Der 22-Jährige ist auf einer Europatour. «Tschernobyl war die schlimmste menschengemachte Katastrophe. Das wollte ich einfach sehen», so der Amerikaner.

Manche Besucher sind wegen einer Fernsehserie hier: Der amerikanische TV-Sender HBO hat das Tschernobyl-Unglück kürzlich verfilmt. Der Fünfteiler ist ein riesiger Erfolg. «Ich habe als Kind in der Schule einen Vortrag über Tschernobyl gehalten», sagt Rasmus Ulson. Der 21-Jährige kommt aus Schweden. «Dann kam die Serie raus und ich sagte zu meinen Freunden: ‹Lasst uns dahin fahren›.»

«Es war ein ziemliches Business»

Andere wiederum sind nicht wegen der Serie gekommen – sondern trotz ihr. So etwa der Deutsche Burkhard Schmidt: «Ich habe bis letzte Woche hin und her überlegt und dann aber entschieden, dass ich das sehen will.»

Die Tour sei ziemlich teuer geworden, sagt der 56-Jährige. Bis zu 150 Dollar (rund 146 Schweizer Franken) kostet der Tagesausflug inzwischen – und das in einem der ärmsten Länder Europas. Schmidt schildert, wie er den Eintritt in die Sperrzone erlebt hat. «Es war ein ziemliches Business. Nicht mehr mit der Gefährlichkeit, die es früher gab. Es ist ein grösseres Touristenereignis geworden.»

Jeder Mittelstreckenflug ist schädlicher

Gefährlich ist ein Besuch in Tschernobyl für Touristen nicht. Es gibt zwar noch Gegenden mit deutlich erhöhter Strahlung – Orte, wo die Geigerzähler der Besucher wie wild anfangen zu piepsen. Die zweite Touristenführerin Anna Kirjanova liest die Werte ab.

Kein Grund zur Panik, meint sie. An dieser verseuchten Stelle beträgt die Strahlung 7.2 Mikrosievert pro Stunde. Das ist zwar 80 Mal mehr als in Kiew, aber bei einem kurzen Aufenthalt besteht keine Gefahr für die Gesundheit. Auf jedem Mittelstreckenflug bekommt man mehr Strahlung ab.

Anna Kirjanova arbeitet seit letztem Herbst als Fremdenführerin in Tschernobyl. Die ehemalige Lehrerin steht auf dem alten Chilbi-Platz von Pripjat, der komplett verlassenen Kleinstadt. Touristen fotografieren das alte Riesenrad. Überhaupt wird viel geknipst: Ein Selfie vor Ruinen und eins vor dem «Achtung Radioaktivität»-Zeichen. Auch die Schutzhülle, die den Unglücksreaktor abschirmt, ist ein beliebtes Sujet.

Kirjanova schildert einen wahren Tourismus-Boom: «Letztes Jahr waren es 65'000 Touristen, die nach Tschernobyl kamen. Dieses Jahr rechnen wir mit 100'000.» Gründe dafür gibt es mehrere. So reisen insgesamt mehr Ausländer in die Ukraine. Aber auch die HBO-Fernsehserie spielt eine Rolle.

Die vielen Touristen überlasten die Infrastruktur. Es droht Dichtestress in der Sperrzone. Kirjanova sagt: «Der Staat müsste dieses Gebiet zur ‹touristischen Zone› erklären. Dann könnte man die Infrastruktur ausbauen.» Es brauche beispielsweise mehr Checkpoints und Zufahrten. «Manchmal dauert es jetzt schon bis zu zwei Stunden, um überhaupt in die Sperrzone reinzukommen.»

Mit anderen Worten: Das touristische Potenzial des Katastrophengebiets könnte besser genutzt werden. Der neue ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sieht das ähnlich: Er hat die Regierung angewiesen, einen Entwicklungsplan für die Zone zu entwickeln. Dazu gehört auch, auf internationalen Märkten die Marke «Tschernobyl» als Tourismusdestination bekannt zu machen.

Am Ende eines langen Reisetages steht Schmidt am Checkpoint und wartet, bis die anderen Reisenden sich mit Souvenirs eingedeckt haben. Sein Eindruck: «Etwas zwiespältig», sagt er. Es sei interessant gewesen, die Anlage zu sehen. Aber «was ein bisschen schade war: Die Ernsthaftigkeit war bei einigen Leuten nicht so spürbar.»

Damit bringt Schmidt das Dilemma von Tschernobyl wohl auf den Punkt: Massentourismus und Ernsthaftigkeit passen einfach nicht zusammen.

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