SRF News: Urs Morf, Sie haben Liu Xiaobo anfang der 1990er-Jahre in einer Buchhandlung kennen gelernt. Woran erinnern Sie sich?
Urs Morf: Es war nur eine sehr kurze Begegnung. Liu Xiaobo war einer von mehreren Demokratie-Aktivisten, welche die Buchhandlung benutzten, um sich auszutauschen. Die meisten von ihnen waren kurz zuvor aus der Haft entlassen worden, welche sie nach Zerschlagung der 1989er-Bewegung verbüssen mussten. Details über mein Gespräch mit Liu weiss ich allerdings keine mehr.
Welche Bedeutung hatte Liu in der chinesischen Dissidenten-Szene?
Als ich ihn traf, gehörte er nicht wirklich zur Dissidenten-«Prominenz», also zu denjenigen chinesischen Bürgerrechtlern, die von den westlichen Medien grosse Aufmerksamkeit bekamen. Trotzdem war er innerhalb der Dissidenten-Szene wegen seiner Beharrlichkeit eine wichtige Figur. Er liess sich von den staatlichen Massnahmen gegen ihn und die Demokratiebewegung nicht beeindrucken. Liu trat stets unbeugsam für Humanismus und demokratische Werte ein.
Peking verbittet sich Kritik aus dem Ausland
China hat andere Regierungen dazu aufgefordert, sich «nicht in die inneren Angelegenheiten» der Volksrepublik einzumischen. Staaten, die Peking wegen seines Umgangs mit dem verstorbenen Nobelpreisträger Liu Xiaobo kritisiert hatten, sollten Chinas «Justiz und Souveränität respektieren», sagte ein Sprecher des Aussenministeriums. |
Womit konkret ist er bei den chinesischen Behörden in Ungnade gefallen, dass er 2009 ins Gefängnis kam?
Den vollen Zorn des Staatsapparats zog Liu 2008 auf sich, als er mit 300 weiteren namhaften Intellektuellen die «Charta08» verfasste. Das umfassende Manifest legte detailliert dar, wie China in einen demokratischen Rechtsstaat umgewandelt werden und das Einparteien-System abgeschafft werden sollte. Das Manifest wurde von 5000 weiteren Intellektuellen unterzeichnet. Zwei Tage vor Veröffentlichung des Papiers wurde Liu von der Polizei zuhause abgeholt und eingesperrt. Im Jahr darauf wurde ihm der Prozess gemacht. 2010 erhielt Liu den Friedensnobelpreis – darin sah das chinesische Regime erst Recht eine grosse Gefahr.
Das chinesische Regime sah in der Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo eine grosse Gefahr.
Liu war vor allem im Ausland bekannt, weniger in China. Weshalb?
Das Regime unterband jegliche Berichterstattung über Liu Xiaobo in China, auch als er den Friedensnobelpreis erhielt. Davon waren ebenfalls die damals noch neuen Sozialen Medien und das Internet betroffen. So wurde etwa der Ausdruck «leerer Stuhl» zensuriert. Grund war das Foto eines Stuhls, der leer blieb, weil Liu den Friedensnobelpreis in Oslo nicht entgegennehmen konnte.
Weshalb gibt es in China jetzt praktisch keine öffentlichen Reaktionen auf Lius Tod?
Das ist eine Folge der massiven Zensur, welche alle Aktivitäten Lius betraf. Offenbar hat man eine riesige Angst davor, dass aus Liu durch den ungeschickten Umgang mit ihm ein Märtyrer werden könnte. So findet man jetzt in den offiziellen chinesischen Medien kein Wort über den Tod Lius. Nur die englischsprachigen Internetmedien erwähnen die Nachricht. Stets wird dabei betont, wie der Westen versuche, Liu Xiaobos Tod für politische Zwecke zu missbrauchen. Dabei erhält das Thema erst durch das Verhalten Pekings eine politische Bedeutung.
Liu könnte zum Märtyrer einer neuen Demokratiebewegung werden.
Was bedeutet es für die chinesische Dissidenten-Szene, dass Liu Xiaobo jetzt tot ist?
Die Szene ist schon seit langem sehr geschwächt. Seit Xi Jinping an der Macht ist, ist dies nochmals akzentuierter der Fall. Die Anzahl der Dissidenten ist nahe an der Bedeutungslosigkeit. Trotzdem: Durch das Verhalten Chinas gegenüber Liu ist eine potenzielle Märtyrer-Figuer geschaffen worden. Sollte es dereinst also zu neuen Unruhen oder einer Demokratie-Bewegung kommen, könnte Liu sehr wohl zu ihrer Ikone werden.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.