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International «Die Nationalisten haben nichts zu bieten»

Eurokrise, Flüchtlingskrise, Terrorangst. Für die EU ist es ein schwieriges Jahr. Die Mitgliedsstaaten reagieren unterschiedlich – mit Nationalismus oder mit Zusammenrücken. Wohin steuert Europa? Ein Interview mit dem früheren deutschen Aussenminister Joschka Fischer.

SRF News: Ausnahmezustand in Paris, in Brüssel – es ist ein schwieriges Jahr für Europa. «Wir sind im Krieg», sagt der französische Präsident. Übertreibt er?

Joschka Fischer: Angesichts der über 100 wahllos ermordeten Menschen und der Tatsache, dass es im Stade de France fast zu einem noch brutaleren Akt gekommen wäre, muss man die Sichtweise der Franzosen verstehen. Zwar ist die klassische Definition von Krieg eine andere, doch es ist eine sehr harte asymmetrische Bedrohung, die sich auch andernorts in Europa hätte ereignen können.

Wenn wir uns um die Probleme in unserer Nachbarschaft nicht kümmern, dann werden diese Probleme früher oder später bei uns im Wohnzimmer landen.

Erstmals in der Geschichte der EU ist der Bündnisfall ausgerufen worden. Schweisst dieser Bedrohungsakt Europa wieder richtig zusammen?

Joschka Fischer

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Fischer war als grüner Politiker von 1998 bis 2005 deutscher Aussenminister und Stellvertreter von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Seit dem Ende seiner politischen Karriere 2006 ist er als journalistischer Kommentator und Unternehmensberater sowie u.a. als Lobbyist für Siemens, BMW oder den Energieriesen RWE tätig.

Wir haben seit 2009 eine ganze Reihe von Krisen, wir hatten die Ukraine-Krise oder die Krim-Annexion und zunehmend sind es Sicherheitsrisiken in der Nachbarschaft. All das zeigt, dass die Vorstellung, wir Europäer lebten auf einer Insel der Seligen, umgeben von einem tosenden Meer, und die Probleme beträfen die anderen, schlicht und einfach die falsche Perspektive darstellt. Wenn wir uns um die Probleme in unserer Nachbarschaft nicht kümmern, dann werden diese Probleme früher oder später bei uns im Wohnzimmer landen. Das ist die Lehre, die wir daraus ziehen müssen.

Trotzdem hat Europa ein Stück weit den Kopf in den Sand gesteckt und sich auseinander bewegt.

Die Frage der Desintegration der Europäischen Union und Solidarität stellt das zentrale Problem dar. Die EU und ihre Institutionen sind für solche Krisen nicht gebaut. Auch ist das Verhältnis der einzelnen Mitgliedsstaaten zur EU nicht in einer effizienten Balance, die ein schnelles Handeln ermöglicht. Daran ist nicht nur Brüssel schuld. So haben etwa Deutschland und Österreich ihre Zuwendungen ans UNHCR im letzten Jahr gekürzt. Als Konsequenz davon musste die Unterstützung für die Flüchtlinge in Jordanien, Libanon oder der Türkei von einem Euro pro Kopf und Tag auf fünfzig Eurocents gekürzt wurde. Da darf man sich nicht wundern, wenn sich die Menschen dann in ihrer Verzweiflung auf den Weg nach Europa machen.

Ich hätte nie gedacht, dass ich Angela Merkel einmal öffentlich in Schutz nehmen müsste.

In der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, dass viele Staaten extrem nationalistisch und egoistisch reagiert haben. Wieso fällt es so schwer, dass man in einer solchen Situation gemeinsam am gleichen Strang zieht?

Wegen der Innenpolitik. Der Druck von rechts ist gross, nicht nur in der Schweiz. Man glaubt, man könne diesen Druck reduzieren, wenn man eine solidarische Haltung ablehnt. Ich halte das für eine Fehlkalkulation. Es wird nicht einfach für die EU, einen neuen Konsens zu finden. Der Alte Konsens – Dublin III – war auf einer Lüge gebaut. Die Griechen und die Italiener hatten die Hauptlast zu tragen. Premier Renzi war mehrmals im EU-Ministerrat und hat dort händeringend um Solidarität gebeten. Doch er erhielt nichts. Wir brauchen einen neuen Konsens, der so aussehen muss, dass die Aussengrenzen gemeinsam beschützt und das Schlepperwesen gemeinsam bekämpft werden. Ausserdem braucht es einen EU-weiten Verteilschlüssel. Doch das wird dauern.

Wie wollen Sie das durchsetzen, wenn es schon so schwierig war, 160'000 Flüchtlinge zu verteilen und viele Länder Zäune und Mauern hochziehen?

Veränderungen in der EU geschehen nur unter dem Druck der Verhältnisse. Und dieser Druck wird zunehmen.

Sie haben mehrmals Kanzlerin Angela Merkel gelobt, weil sie unter starkem Druck immer wieder versichert hat, dass Deutschland die Flüchtlingskrise schaffe. Haben Sie immer noch diesen Eindruck?

Die Kanzlerin hat die richtige Haltung eingenommen. Ihr wird nun auch aus den eigenen Reihen vieles vorgeworfen. Ich hätte nie gedacht, dass ich Angela Merkel einmal öffentlich in Schutz nehmen müsste. Doch ich muss es tun, weil ich von der Richtigkeit ihrer Position überzeugt bin. Die Flüchtlinge in Budapest waren da, ohne dass Merkel auch nur einmal etwas dazu gesagt hätte. Sie waren auf dem Marsch zur österreichischen Grenze, es drohte eine humanitäre Katastrophe. Hätte man gegen Frauen, Kinder, Alte und Gebrechliche mit Bereitschaftspolizei, Wasserwerfern und Tränengas vorgehen sollen? Das wäre niemals durchhaltbar gewesen. Deshalb hat Merkel die richtige Entscheidung zur Abwehr einer humanitären Notsituation getroffen.

Wenn wir Europäer unser Schicksal auch nur einigermassen selber bestimmen wollen, wird das nur zusammen gehen. Getrennt wird das eine selbstfabrizierte historische Niederlage werden.

Die Quelle des Übels ist natürlich der Syrienkrieg. Sind hier Lösungen möglich? Sehen Sie, dass sich der Westen nun etwas auf Russland zubewegt?

Audio
Joschka Fischer: «Diese Bedrohung betrifft nicht nur Europa»
aus Echo der Zeit vom 23.11.2015. Bild: SRF. Ursula Hürzeler
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 45 Sekunden.

Es ist eine grosse Chance. Die mehr als 200 Toten des Anschlags auf das russische Flugzeug in Ägypten wiegen schwer in Russland. Nur: Man darf den Fehler nicht machten, Syrien mit der Ukraine zu verknüpfen. Ich empfehle dieselbe Vorgehensweise, wie bei den Nuklearverhandlungen mit dem Iran: strikte Trennung. Das Eine ist das Eine, das Andere ist das Andere. Wenn es dann noch gelingt, den vorletzte Woche in Wien begonnenen Prozess fortzusetzen und eine Transformation in Syrien mit einer Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII zu verbinden, wäre dies ein riesiger Schritt nach vorne. Das muss mit dem diplomatischen Prozess verknüpft werden. Es ist allerdings illusorisch zu meinen, man könne die Frage des militärischen Niederkämpfens des «Islamischen Staates» ausklammern. Man kann weder auf die Diplomatie verzichten, noch kann es allein mit ihr gehen. Wenn hier eine Einigung – unter Einschluss Chinas – gelingt, wäre man einen wichtigen Schritt weiter.

Wenn die Schweiz wirklich noch souverän wäre, dann gäbe es das Bankgeheimnis noch. Doch das gibt es nicht mehr.

Der Aufschwung der Nationalisten und der Euroskeptiker ist gross. Was setzen Sie denen entgegen?

Sie haben nur den Blick zurück zu bieten, während sich die Welt vorwärts bewegt. Wenn die Europäer Lust auf Selbstmord haben, müssen wir die Nationalisten wählen. Oder nehmen sie das ganze Souveränitätsgetöse. Wenn die Schweiz wirklich noch souverän wäre, dann gäbe es das Bankgeheimnis noch. Doch das gibt es nicht mehr. Der Grund ist, dass die Schweiz nicht mehr so souverän ist, wie sie das früher einmal war. Die Welt hat sich verändert und ändert sich dramatisch schnell. Es gibt neue Herausforderer: Die grossen Mächte wie China, Indien, Indonesien und Brasilien werden die Welt von morgen sehr viel stärker bestimmen als Europa. Und wenn wir Europäer unser Schicksal auch nur einigermassen selber bestimmen wollen, wird das nur zusammen gehen. Getrennt wird das eine selbstfabrizierte historische Niederlage werden. Der Nationalismus hat uns nichts zu bieten. Das müssen wir den Nationalisten entgegenstellen. Das wird hart und nicht einfach. Doch man geht nicht in die Politik, damit man ein einfaches Leben hat.

Das Gespräch führte Ursula Hürzeler.

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