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Eine behaarte Hand hält einen Türkei-Wimpel.
Legende: Wer Anhänger der Gülen-Bewegung ist, ist nicht klar. Die Gruppe operiert weitgehend im Geheimen. Reuters
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International Gülen-Bewegung – echte Gefahr oder Vorwand?

In der Türkei gilt für drei Monate der Ausnahmezustand. Dieser diene einzig der Verfolgung der Gülen-Bewegung, sagt der türkische Regierungssprecher. Wer steckt hinter dieser Bewegung? Und geht von ihr tatsächlich eine Bedrohung des Staates aus? Fragen an den deutschen Historiker Nikolaus Brauns.

In der Türkei hat Präsident Erdogan den Ausnahmezustand verhängt. Zum Schutze der Bevölkerung sei dieser Schritt gedacht, und «definitiv nicht gegen die Freiheit der Bürger gerichtet», sagte er. Etwas konkreter äusserte sich Erdogans Sprecher: Ziel sei es, die Bewegung des charismatischen, konservativen sunnitischen Predigers Fetullah Gülen zu verfolgen. Dieser wird beschuldigt, Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs zu sein. Man werde diese «Parallelstruktur» im Staat bekämpfen.

SRF News: Was meint die türkische Regierung mit dieser «Parallelstruktur», die von der Gülen-Bewegung ausgehen und den Staat bedrohen soll?

Nikolaus Brauns: Die Gülen-Bewegung ist seit den 70-er-Jahren daran, den türkischen Staat zu unterwandern. Diese Unterwanderung betraf zu Beginn vor allem die Polizei. Unter Reccep Tayyip Erdogan gab es dann aber ein Bündnis zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP. Die Partei brauchte nämlich Leute, um die alten, säkularen Eliten aus dem Staatsapparat zu verdrängen.

Da kam ihr die Gülen-Bewegung mit ihren vielen gut ausgebildeten Spezialisten – insbesondere Juristen – zu Hilfe. Die AKP öffnete der Gülen-Bewegung damals regelrecht die Tore zum Staatsapparat. Aber irgendwann zerbrach das Bündnis. Als die Gülen-Leute über ihre Staatsanwälte Korruptionsverfahren gegen Erdogans engstes Umfeld begannen, erklärte Erdogan, das sei ein Justiz-Putsch der Gülenisten. Ihnen gehe es darum, seine Regierung zu stürzen und selber die Macht zu übernehmen. Seitdem ist das eine offene Feindschaft.

Seit dem Bruch des Bündnisses zwischen Erdogan und Gülen ist es eine offene Feindschaft.

Ist die Bewegung eine Gefahr für die Türkei oder nur für die AKP und Erdogan?

Eine Gefahr für die Demokratie sind beide, die Gülen-Bewegung sowie die AKP. Aber die Gülen-Bewegung ist seit dem Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen schon erheblich geschwächt worden. Es gab massenhafte Versetzungen von Beamten. Hochrangige Terrorfahnder fanden sich plötzlich als Forstwächter wieder. Es gab auch Verhaftungen von Polizisten, denen jetzt wegen angeblich geplanter Putsche der Prozess gemacht wird. Ich denke, die Gülen-Bewegung ist derzeit keine echte Gefahr mehr für Erdogan, weil ihre Struktur deutlich geschwächt ist.

Man weiss allerdings nicht, wer alles zu dieser Bewegung gehört. Wie ist so viel Verschwiegenheit möglich?

Die Gülen-Bewegung besteht in ihrem inneren Kern aus einer sehr straff organisierten, sektenähnlichen Kaderstruktur. Das geht von ganz oben, mit Gülen als spirituellem Führer der Bewegung, zu einem unter ihm sitzenden Rat von Weltimamen. Und das geht runter bis zum kleinen Vorbeter, den grossen Brüdern und Schwestern in den Wohnheimen und den Nachhilfekursen, die die Bewegung betreibt.

Daneben gibt es ein sehr grosses Umfeld von Sympathisanten, von Förderern und Geschäftsleuten, die der Bewegung viel Geld geben, um umgekehrt von ihr Aufträge und gutes Personal und politischen Einfluss zu bekommen. Die Kaderstruktur hat es in den Jahrzehnten der Illegalität gelernt, sich zu verbergen und im Untergrund zu arbeiten – etwas, was ihr jetzt wieder zu Pass kommen wird. Es ist eine sehr undurchsichtige Bewegung.

Die Gülen-Bewegung ist keine echte Gefahr mehr für Erdogan, weil ihre Struktur deutlich geschwächt ist.

Gülen lebt in den USA im Asyl. Erdogan behauptet, die USA steckten hinter dem gescheiterten Putschversuch vom vergangenen Wochenende...

Audio
Fethullah Gülen und seine Gülen-Bewegung
aus Echo der Zeit vom 21.07.2016. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 28 Sekunden.

Das ist nicht gänzlich auszuschliessen. Nicht die USA oder die US-Regierung als Ganzes, aber ich halte es doch für sehr wahrscheinlich, dass eine Fraktion im Pentagon, die alten Neokonservativen, tatsächlich zu diesem Putsch ermutigt haben. In deren Umfeld wurde ja bereits im März, beim American Enterprise Institute, einem der führenden neokonservativen Thinktanks, offen über einen Putsch in der Türkei nachgedacht. Es hiess, dass so einer im Interesse der USA wäre.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass eine Fraktion im Pentagon zu diesem Putsch ermutigt hat.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass aus dieser Richtung eine Ermutigung für die Putschisten kam. Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, dass die Gülen-Bewegung selbst die treibende Kraft hinter diesem Putschversuch war. Denn soviel Einfluss wie sie auch auf die Justiz, Polizei und andere Sektionen des türkischen Staates in der Vergangenheit hatte, so wenig hatte sie Einfluss auf das Militär.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

Nikolaus Brauns

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Porträt Nikolaus Brauns
Legende: nikolaus-brauns.de

Der Journalist und Historiker forscht in Berlin unter anderem zu den Entwicklungen in der Türkei und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im deutschen Bundestag. Er schreibt hauptsächlich über die Türkei und den Nahen Osten.

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