Die Sicht aus dem UNO-Propellerflugzeug ist atemberaubend und deprimierend zugleich: Zwischen Somalias Hauptstadt Mogadischu und unserem Ziel Baidoa erstreckt sich eine rot-orangene Landschaft mit einer weisslichen, kilometerlangen Riesenschlange. Sie entpuppt sich schliesslich als ausgetrockneter Fluss.
Eine Landschaft der Dürre. Hüttenansammlungen, die von keiner Hilfsorganisation erreicht werden können. Ausser mit Nahrungsmitteln, die aus der Luft abgeworfen werden. Denn unter uns herrscht Al-Shabaab, eine islamistische Terrororganisation.
Aus den Städten wurde Al-Shabaab vertrieben. Trotzdem gelingt es ihr Angst und Schrecken zu verbreiten. Immer wieder verüben Terroristen der Al-Shabaab Anschläge in der Hauptstadt Mogadischu. In den ländlichen Gebieten, wo die meisten Menschen leben, ist ihre Macht sogar häufig ungebrochen. Sie kontrolliert die meisten Strassen und somit die Lebensadern, die die Dörfer untereinander und mit den Städten verbinden.
Baidoa, die drittgrösste Stadt Somalias, ist unter Regierungskontrolle. Für westliche Besucher heisst das aber nicht, dass man hier auf den Strassen flanieren kann. Die pittoresken Eselkarren und die Frauen in roten Tschadors muss ich entweder aus dem kugelsicheren Auto filmen oder vom Wachturm des Gästehauses der Hilfsorganisation Save the Children. Die Frauen sehen mich, sie winken mir, ein Besuch wäre sicher möglich – doch man weiss nie.
Baidoa ist eine kleine Insel der Sicherheit. Bereits 15 Kilometer ausserhalb herrscht Al-Shabaab. Sie kontrolliert mit Gewalt und Terror, wie der Gesundheitsminister von Südwest-Somalia, Isaac Ali Subuq, sagt. «Wer nicht spurt, wird geköpft. Das ist zuvor in Somalia nie vorgekommen. Unsere Religion ist der Islam, ja. Aber nicht diese pervertierte Form». Er weiss, wovon er spricht. Subuq versucht, gemeinsam mit den internationalen Hilfsorganisationen und der UNO alle Opfer der Dürre zu unterstützen. Doch Al-Shaabab erklärte 2011 sämtliche Hilfsorganisationen für unerwünscht.
Al-Shabaab
Die Terrorgruppe Al-Shabaab («die Jugend») gründete sich zwischen 2004 und 2006 aus zwei älteren islamistischen Organisationen in Somalia. Al-Shabaab kontrolliert Teile Südsomalias und setzt dort die Scharia in strenger Form durch. Schätzungen zufolge gehören der Organisation 7000 bis 9000 Kämpfer an. Die Islamisten verüben immer wieder Terroranschläge in Somalias Hauptstadt Mogadischu sowie im Nachbarland Kenia. Al-Shabaab gilt als regionaler Ableger von Al-Kaida. |
Die Bewohner in den von Al-Shabaab kontrollierten Dörfern wissen, dass keine Hilfe zu ihnen kommen kann. Deshalb laufen sie teilweise über 200 Kilometer nach Baidoa. Rund um die Stadt leben bereits über 180’000 Menschen. «Wir befürchten, dass sie nicht in ihre Dörfer zurückkehren werden», sagt der Gesundheitsminister. Denn wer einmal das Territorium der Al-Shabaab verlassen habe, gelte als Verräter und müsse bei einer Rückkehr das Schlimmste befürchten.
Die UNO-Organisationen und die NGO’s sind sich dieser Ausgangslage bewusst. An UNO-Treffen in Baidoa wird mitten in einem Labyrinth von Mauern, Sandsäcken und mehrstufigen Checkpoints von der Ausbildung von Bauern gesprochen und von langfristigen Programmen, die die Regierung stärken sollen.
So betont auch der CEO von Save the Children Schweiz, Ömer Güven, die Wichtigkeit, die Regierung zu unterstützen. «Wir arbeiten bereits sehr erfolgreich mit dem Gesundheitsministerium zusammen. Und ich hoffe, dass wir diese Zusammenarbeit vertiefen können.» Doch auch er weiss, dass die Regierung jung ist und relativ unerfahren, um die Herausforderungen dieses Landes zu bewältigen.
Die heutige somalische Regierung wurde nicht so gewählt, wie man es sich westlichen Demokratien vorstellt. Es waren nicht die Einwohner, sondern die Clanführer, die die Regierung wählten. Gestärkt wird die Regierung seit längerem von Amison, den Friedenstruppen der afrikanischen Union, die von der UNO unterstützt werden. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, Strassen für humanitäre Transporte zu sichern. Doch von Mogadischu bis zum 250 Kilometer entfernten Baidoa erschweren die Attacken von Al-Shabaab die Fahrt so sehr, dass ein mit panzerähnlichen Fahrzeugen eskortierter Konvoi zum Teil wochenlang unterwegs ist.
Trotz all diesen Schwierigkeiten erobert die Regierung Terrain zurück – wenn auch im Schneckentempo. Ob ganz Somalia je unter Regierungskontrolle fallen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie lange Al-Shabaab durch ausländische Gönner finanziert wird. Und ob das Land je über die Clan-Befindlichkeiten hinauswachsen und eine nationale Identität entwickeln kann.
Somalia – ein gescheiterter Staat
Die Republik Somalia entstand 1960, nachdem das britische Protektorat Somaliland und die italienische Kolonie Somalia ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Neun Jahre später putschte sich General Siad Barre an die Macht und installierte eine sozialistische Fortschrittsdiktatur. Mit dem Ziel, ein «Gross-Somalia» zu etablieren, griff Barre 1977 das ebenfalls sozialistische Äthiopien an. Die Sowjetunion entzog darauf Somalia ihre Unterstützung. Stattdessen konnte das Land auf die Hilfe der USA zählen. Einer der grössten Stellvertreterkriege des Kalten Krieges war die Folge. |
Der Guerilla-Krieg eskalierte 1988 und führte drei Jahre später zum Sturz von Barres Regierung. Im nachfolgenden Bürgerkrieg kämpften verschiedene Clangruppen um die Vorherrschaft im Land. Somaliland im Nordwesten des Landes löste sich daraufhin vom Zentralstaat und rief seine Unabhängigkeit aus. Trotz verschiedener freier Wahlen wurde das Land bis dato nicht international anerkannt. |
In Süd- und Zentralsomalia hielt der Bürgerkrieg dagegen unvermindert an. Friedensmissionen der USA und der UNO scheiterten. 2006 gingen Äthiopien und später Truppen der Afrikanischen Union in Mogadischu gegen Islamisten vor. 2012 wurde eine international anerkannte Zentralregierung installiert. Seither hat das Land etwas an Stabilität gewonnen. Doch weite Teile des Landes sind immer noch nicht unter Regierungskontrolle und die islamistische Terrorgruppe Al-Shabaab stellt weiterhin eine immense Herausforderung dar. |