Zum Inhalt springen

Header

Audio
Libanon: Immer mehr Menschen leiden Hunger
Aus Rendez-vous vom 19.05.2021. Bild: SRF. Susanne Brunner
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 29 Sekunden.
Inhalt

Kein Geld – kein Essen Libanon droht der völlige Zerfall

Die Lage im Land wird immer prekärer. Viele Menschen hungern, weil sie sich kaum noch das Nötigste leisten können.

Eine Katze bettelt zwei Männer an, die im dicht besiedelten Tariq-el-Jdideh-Quartier von Beirut gerade vom Einkaufen zurückgekommen sind. Nur einer von ihnen trägt eine Plastiktüte.

«Wenn Sie eine Fernsehkamera hätten, würden wir nicht mit Ihnen reden», sagt der eine. Kürzlich habe sie ein Fernsehteam wie Bettler dargestellt und damit erniedrigt. Ohne Kamera aber hat er keine Hemmungen, seine mageren Einkäufe zu zeigen.

Horrende Preise für Linsen

«Ein kleiner Sack Linsen kostet 14'500 Pfund», sagt er. Das sind umgerechnet fast zehn Franken.

Je zwei kleine Säcke Linsen und Kichererbsen konnte er sich im Laden für subventionierte Lebensmittel ergattern – und ein Kilo Milchpulver: «Nicht einmal ganz ein Kilogramm ist das – und kostet 74'000 Pfund», sagt der zweite Mann. Das ist etwa doppelt so teuer wie in der Schweiz.

Einksufstasche mit Linsen, Kichererbsen und Milchpulver.
Legende: Etwas Linsen, Kichererbsen und Milchpulver. Kosten: umgerechnet rund 90 Franken. SRF/Susanne Brunner

Mit den mageren libanesischen Löhnen sind die Lebensmittel nochmals teurer – wegen des Zerfalles des libanesischen Pfundes sind aus guten Löhnen Hungerlöhne geworden. «Für viel mehr als eine Mahlzeit reicht das alles nicht. Er hat vier und ich sechs Kinder», sagt der Mann.

Für die subventionierten Lebensmittel, die es bestenfalls einmal pro Woche gibt, standen die beiden Familienväter anderthalb Stunden an. Der eine hat als Elektriker gearbeitet und seinen Job verloren, der andere verkauft Socken, die niemand kaufen kann.

Noch mehr Stromausfälle

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Reuters

Im Schatten der Eskalation des Nahostkonflikts zerfällt Libanon immer mehr. Am vergangenen Freitag hat der kleine Mittelmeerstaat auf einen Schlag einen Viertel seiner Stromproduktion verloren. Türkische Schiffe, die seit 2013 Strom vor der Küste Libanons produzierten, haben damit aufgehört, weil sie der libanesische Staat nicht mehr bezahlen kann. Also gibt es fortan noch mehr Stromausfälle. Dem Staat geht auch das Geld für die Subventionierung von Lebensmitteln aus. Das trifft die libanesische Bevölkerung hart, denn viele hungern bereits, weil sie sich kaum noch das Nötigste leisten können.

Die Wirtschaftskrise und vor allem die horrende Inflation seien schlimmer als im Bürgerkrieg, der 1990 endete und den beide Männer erlebt haben.

Unfähige Politiker

Den Menschen mit ihren fast leeren Einkaufstaschen lächelt von einer Plakatwand ein übergrosser Saad Hariri entgegen. Hariri trat 2019 als Premier zurück, als Hunderttausende in den Strassen gegen die korrupte Regierung demonstrierten.

Seit Oktober 2020 ist er wieder designierter Premier, doch eine Regierung bringt er nicht zustande. Trotzdem halten im mehrheitlich sunnitischen Tariq-el-Jdideh-Quartier in Beirut viele noch zu ihm.

Riesiges Plakat von Hariri.
Legende: Saad Hariri musste unter dem Druck der Strasse 2019 als Premier zurücktreten. Doch seit Oktober steht er der Regierung ad interim wieder vor. SRF/susanne Brunner

Auf einem Bänklein im Schatten sitzt eine ältere Frau, in der Hand hält sie einen Gehstock, am Handgelenk baumelt eine Plastiktüte, sie trägt eine Gesichtsmaske. «Sie demonstrieren, schlagen sich zusammen, und es ändert sich doch nichts», sagt sie resigniert.

In ihrer Einkaufstasche befinden sich ein paar Batterien und eine Zeitung, die ihr eine Freundin geliehen hat. Für Lebensmittel habe das Geld heute nicht gereicht.

Profiteure in der Not

«Niemand wird satt. Wir haben so wenig zu essen. Und die Händler erhöhen dauernd die Preise!», klagt die Frau. Ein Kilo Fleisch koste jetzt 100'000 Pfund. Das könne sie sich nicht leisten. Sie könne sich höchstens ab und zu ein halbes Pfund Fleisch kaufen.

Aus der Not der Menschen versuchen die einzelnen politischen und religiösen Parteien nun Kapital zu schlagen. Im Süden des Landes füllt die militante Hisbollah Lager mit Nahrungsmitteln und verteilt ihrer Anhängerschaft Essensmarken. In anderen Landesteilen kommt es in den Supermärkten zu Schlägereien um einen Sack Zucker. Denn viele Regale sind praktisch leer.

«Schau, was mit uns in Libanon passiert», sagt die Frau auf dem Bänklein resigniert.

Ein Staat am Abgrund

Box aufklappen Box zuklappen

Die militante Hisbollah im Süden Libanons ist quasi in einem Dauerkriegszustand mit Israel. Trotzdem haben die Hisbollah und vor allem Libanon kein Interesse, in den Israel-Gaza-Krieg hineingezogen zu werden. Das zeigen auch die raschen Dementis der Hisbollah, als in den letzten Tagen wiederholt Raketen aus dem Süden des Landes auf Israel abgefeuert wurden. Sie sei es nicht gewesen, hiess es. Die israelische Armee vermutet, dass eine militante Palästinensergruppierung die Raketen abgefeuert hat. In der Tat wäre mit einem Krieg derzeit keine landesweite Sympathie für die Hisbollah zu gewinnen. Denn viele Libanesinnen und Libanesen geben ihr die Schuld an der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut letztes Jahr. Zudem würde ein Krieg die Not der Menschen nochmals vergrössern, was der Hisbollah auch keine Punkte bringen würde. Das alles heisst aber nicht, dass die Situation nicht gefährlich ist. Denn Libanon rutscht als Staat immer mehr in den Abgrund.

Rendez-vous, 19.05.2021, 12:30 Uhr

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel