Militärische Aktionen
Ukrainische Truppen geraten im Osten des Landes immer stärker unter Druck. Prorussische Separatisten erklärten am Freitag, die strategisch wichtige Stadt Lyman erobert zu haben. Der Eisenbahnknotenpunkt sei in ihrer Hand, teilten Vertreter der sogenannten Volksrepublik Donezk mit.
Nach Angaben des Gouverneurs der Region Luhansk, Serhij Gaidai, ist zudem die Stadt Sjewjerodonezk zu zwei Dritteln von russischen Streitkräften eingekreist. Der sehr starke russische Beschuss habe 90 Prozent der Wohnungen in der Stadt beschädigt. Russische Einheiten seien in die Stadt eingedrungen, schrieb er zudem im Kurznachrichtendienst Telegram. Zwar hätten die ukrainischen Soldaten genügend Kraft und Ressourcen, um sich zu verteidigen. «Trotzdem ist es möglich, dass wir uns zurückziehen müssen, um uns nicht ergeben zu müssen.»
Westliche Militärexperten sehen vor allem in der möglichen Eroberung von Lyman eine Vorentscheidung darüber, ob Russland seine Offensive fortsetzen kann oder nicht, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Ein Sprecher des Kiewer Verteidigungsministeriums sagte, ukrainische Truppen hätten demnach einen Gegenangriff gestartet.
Nach den gescheiterten Angriffen auf die Hauptstadt Kiew und Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine nahe der russischen Grenze, hatte Russland seine Strategie geändert. Ziel ist nunmehr die vollständige Eroberung der beiden Provinzen des Donbass, Donezk und Luhansk. Seit 2014 ist das Gebiet bereits teilweise in den Händen prorussischer Separatisten.
Nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums sei überdies der Hafen der inzwischen vollständig eroberten Stadt Mariupol für die internationale Schifffahrt wieder offen. Die Gefahr durch Seeminen sei gebannt worden, hiess es am Donnerstag.
Verhandlungen und Diplomatie
Eine diplomatische Lösung ist nicht in Sicht. Verhandelt wird zwischen Moskau und Kiew derzeit nicht. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski betonte, er sei zu direkten Gesprächen mit Wladimir Putin bereit – dies unter der Bedingung, dass sich die russische Armee in diejenigen Gebiete zurückziehe, in denen sie vor Kriegsbeginn Ende Februar war. «Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurück hat», bekräftigte Selenski am Mittwoch am Rande des Weltwirtschaftsforums WEF in einer erneuten Videoschaltung. Russland wirft der Ukraine derweil widersprüchliche Äusserungen zu Friedensgesprächen vor. Dass die Gespräche eingefroren seien, liege in der Verantwortung der Regierung in Kiew, sagte der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow, gemäss der Nachrichtenagentur Reuters.
Wladimir Putin hat nach Ansicht von Österreichs Kanzler Karl Nehammer im Ukraine-Krieg ein Entgegenkommen bei Getreideexporten sowie beim Umgang mit Kriegsgefangenen signalisiert. So habe Putin zugesichert, mit Kiew wieder über die Frage des Gefangenenaustauschs zu verhandeln, sagte Nehammer nach einem 45-minütigen Telefonat mit dem russischen Präsidenten am Freitag. Das Internationale Rote Kreuz werde laut Putin Zugang zu den Kriegsgefangenen erhalten, so der Regierungschef in Wien.
Darüber hinaus orte er eine gewisse Beweglichkeit Moskaus beim Problem des aktuell extrem erschwerten Getreide-Exports der Ukraine. «Putin hat Signale gegeben, dass er durchaus bereit ist, Exporte über die Seehäfen zuzulassen», sagte Nehammer. Die dafür nötigen Häfen müssten aber wohl von zu Verteidigungszwecken ausgelegten Minen geräumt werden, was Moskau nicht ausnützen dürfe, sagte Nehammer. Von Kremlseite hiess es, Putin habe Nehammer darauf hingewiesen, dass es keinen Grund gebe, Russland die Schuld für die Probleme bei den Lebensmittellieferungen zu geben. Insgesamt sei das Telefonat «sehr intensiv und sehr ernst» gewesen.
Nach dem Fall von Mariupol
Die ukrainischen Kämpfer, die kürzlich in Mariupol in russische Kriegsgefangenschaft geraten sind, werden weiter im von prorussischen Separatisten kontrollierten Donbass festgehalten. «Alle werden auf dem Gebiet der Donezker Volksrepublik festgehalten», sagte Separatistenführer Denis Puschilin am Donnerstag der Agentur Interfax.
Bis zum vergangenen Wochenende hatten sich mehr als 2400 ukrainische Verteidiger der Hafenstadt Mariupol, die im Donezker Gebiet liegt, ergeben, nachdem sie sich zuvor wochenlang im belagerten Stahlwerk Asowstal verschanzt hatten.

Die Ukraine hofft, dass die Männer und Frauen im Zuge eines Gefangenenaustauschs freikommen können – auch, weil die Separatisten in der selbst ernannten Volksrepublik Donzek bereits vor Jahren die Todesstrafe eingeführt haben. Moskau hat bezüglich eines möglichen Austauschs bislang aber noch keine Entscheidung verkündet.
In Russland soll unterdessen das ukrainische Asow-Regiment, dessen Mitglieder auch in Mariupol kämpften, als «terroristische Organisation» eingestuft werden. Für die Mitgliedschaft in einer als terroristisch verbotenen Organisation drohen in Russland bis zu 20 Jahre Haft. Inwiefern die Einstufung die Mariupoler Kämpfer betreffen könnte, ist unklar.
Kriegsopfer
Getötete Armee-Angehörige: Ein genaues Bild über Todesopfer – sowohl auf russischer wie auf ukrainischer Seite – gibt es nicht. Die Angaben und Schätzungen gehen weit auseinander. Die Nato geht davon aus, dass mittlerweile zwischen 7000 und 15'000 russische Armeeangehörige ihr Leben verloren haben. Die Ukraine gibt die Zahl deutlich höher, mit über 27'000 getöteten russischen Soldaten, an. Von russischer Seite gibt es dazu keine Angaben mehr; die letzte Zahl, die Ende März genannt wurde, sprach von rund 1300 getöteten Soldaten.
Der ukrainische Präsident Selenski hatte zuletzt Mitte April die eigenen Verluste offengelegt. Damals sprach er von insgesamt etwa 3000 ukrainischen Soldaten, die seit dem russischen Angriff am 24. Februar gestorben seien.
Zivile Opfer: Laut dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte haben Beobachter bislang 4031 getötete Zivilisten verifiziert (Stand 26. Mai), davon 261 Kinder. Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte schreibt in seinem Bericht vom 27. Mai, man gehe davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen erheblich höher seien.
Flüchtende: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind nach Angaben des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mehr als 6.6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aus ihrem Heimatland geflüchtet. Innerhalb der Ukraine befanden sich zudem mehr als acht Millionen Menschen auf der Flucht. Zusammen sind das mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung.
In der Schweiz sind bis Freitag 53’655 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert worden, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) per Twitter bekannt gab. 50’923 Ukraine-Flüchtlinge haben gemäss den Angaben bisher den Schutzstatus S erhalten.