Militärische Situation
Im ostukrainischen Gebiet Luhansk sind die regierungstreuen Truppen in Lyssytschansk nach eigenen Angaben akut von einer Einschliessung bedroht. Die knapp sieben Kilometer westlich der Stadt gelegene Raffinerie sei umkämpft, teilte der Generalstab mit. Russische Truppen rückten aus dem Süden auf die Stadt vor, auch an der westlichen und südlichen Stadtgrenze werde gekämpft.
In russischen Medien wurde die Raffinerie bereits als komplett erobert dargestellt. Lyssytschansk ist der letzte grössere Ort im Luhansker Gebiet unter ukrainischer Kontrolle. Zuletzt konnte er nur noch über wenige Versorgungsrouten aus dem Westen mit Nachschub versorgt werden.
Im benachbarten Donezker Gebiet seien russische Vorstösse bei Slowjansk und Bachmut zurückgeschlagen worden, teilte der ukrainische Generalstab mit. Entlang der gesamten Frontlinie würden ukrainische Stellungen kontinuierlich mit Artillerie beschossen und aus der Luft bombardiert. «Die Überlegenheit der Besatzer bei der Feuerkraft ist extrem spürbar», sagte Selenski in der Nacht auf Freitag zur Lage im Osten. Russland greife dafür auf seine Reserven zurück.
Während Russland in der Ostukraine weiter seine militärische Überlegenheit ausspielt, kann Kiew über die Rückeroberung der symbolträchtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer jubeln. Dies bringt die Ukraine laut Selenski in eine bessere Position.
Die Schlangeninsel ist ein strategischer Punkt und das verändert erheblich die Situation im Schwarzen Meer.
«Die Schlangeninsel ist ein strategischer Punkt und das verändert erheblich die Situation im Schwarzen Meer», sagte er in der Nacht in seiner täglichen Videoansprache.
Die Handlungsfreiheit des russischen Militärs werde dadurch deutlich eingeschränkt – auch wenn dies noch keine Sicherheit garantiere. Russland hatte die Schlangeninsel kurz nach dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar besetzt. Nach ukrainischen Militärangaben erlaubt die Schlangeninsel die Kontrolle über Teile der ukrainischen Küste und Schifffahrtswege. Mit dem Rückzug der Russen von der Insel müsse das Gebiet um die Hafenstadt Odessa keine Landung russischer Einheiten vom Meer her befürchten.

Luftschläge bleiben aber weiterhin möglich, wie das russische Militär demonstrierte. Bei einem russischen Raketenangriff im Gebiet Odessa wurden nach ukrainischen Angaben zehn Menschen in einem Mehrfamilienhaus getötet. Die Rakete habe einen Teil des neunstöckigen Gebäudes zerstört, teilte der Chef der örtlichen Militärverwaltung, Serhij Bratschuk, mit. Nach der Attacke sei ein Brand ausgebrochen. Die Rakete sei von einem russischen Militärflugzeug über dem Schwarzen Meer abgefeuert worden.
Verhandlungen und Diplomatie
Nach dem Ende des Nato-Gipfels in Madrid am Donnerstag unterstrich US-Präsident Joe Biden die Verteidigungsbereitschaft der Nato-Bündnispartner. «Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Gebietes verteidigen», so Biden. «Ein Angriff auf einen von uns ist ein Angriff auf alle.» Man werde zudem die Ukraine unterstützen, solange es nötig sein werde. «Es wird nicht damit enden, dass Russland die Ukraine in der Ukraine schlägt.»
Nicht nur die USA, auch andere Nato-Partner wollen ihre Truppenpräsenz in Europa weiter ausbauen – auch an der Ostflanke der Nato. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz will etwa dauerhaft eine gepanzerte Division mit 15’000 Mann, 60 Flugzeugen und 20 Marineeinheiten zum Schutz der Nato-Ostgrenze zur Verfügung stellen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betonte ebenfalls die geschlossene Haltung Europas und der USA, unterstrich aber zugleich die Notwendigkeit eines Kontakts zu Kremlchef Wladimir Putin.
Blockierter Getreideexport
Die Ukraine beklagt, dass ihre Häfen im Schwarzen Meer durch die russische Kriegsmarine blockiert seien. Beide Länder gehören zu den grössten Weizenexporteuren und spielen eine wichtige Rolle bei der Ernährungssicherheit in der Welt. Die Vereinten Nationen warnten zuletzt schon vor der grössten Hungersnot seit Jahrzehnten.

Kriegsopfer
Armeeangehörige: Ein genaues Bild über Todesopfer – sowohl auf russischer wie auf ukrainischer Seite – gibt es nicht. Die Angaben und Schätzungen gehen weit auseinander. Etwa 10'000 Soldaten der ukrainischen Armee sind nach Angaben eines Beraters von Präsident Selenski von Mitte Juni seit der russischen Invasion im Februar bis zum 10. Juni getötet worden. Die Ukraine geht davon aus, dass mittlerweile über 35'000 russische Armeeangehörige ihr Leben verloren haben (Stand 29. Juni). Westliche Experten zweifeln diese Zahl jedoch an.
Zudem meldete Moskau am Donnerstag, bislang seien 6000 ukrainische Militärangehörige durch die russische Seite festgenommen worden oder hätten sich ergeben.
Von russischer Seite gibt es keine Angaben mehr. Die letzte Zahl, die Ende März genannt wurde, waren rund 1300 getötete Soldaten.
Zivile Opfer: Laut dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte haben Beobachter bislang 4731 getötete Zivilisten verifiziert (Stand 27. Juni), davon 330 Kinder. Man gehe jedoch davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen erheblich höher seien.
Gemäss ukrainischen Polizeiangaben sind bisher mehr als 12'000 Zivilisten umgekommen. Die meisten Opfer seien durch Explosionen getötet worden, sagte der Chef der ukrainischen Polizei, Ihor Klymenko, gegenüber der Agentur Interfax-Ukraine.
Flüchtende: Mehr als acht Millionen Menschen haben seit dem russischen Angriff auf die Ukraine das Land verlassen. Das teilt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit. Innerhalb der Ukraine befinden sich zudem mehrere Millionen Menschen auf der Flucht.
In der Schweiz haben bis Donnerstag 58'254 Geflüchtete aus der Ukraine den Schutzstatus S beantragt, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Twitter bekannt gab. 56'284 Personen haben bisher diesen Status erhalten.