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Jahrestag in der Türkei Verhaftungen, Entlassungen, Berufsverbote

Seit dem gescheiterten Putsch rollt eine beispiellose Säuberungswelle über das Land. Sie hat die Gesellschaft grundlegend verändert.

Ahmed* schenkt Raki nach. Er sitzt mit Freunden im Wohnzimmer. Sie sind zu Ahmeds Abschiedsparty zusammengekommen. Die Stimmung ist gedrückt. Ahmed wird nach Holland fahren und dort eine Assistenzstelle an einer Universität antreten. Wann er wieder in die Türkei zurückkommt, ist offen. «Serefe – alles Gute», prosten sie.

Einer holt sein Smartphone hervor und macht ein Selfie mit der Gruppe. Einige wollen nicht aufs Bild. Wer weiss, wo dieses Foto publiziert wird. Sie wollen nicht mit Ahmed, dem Abtrünnigen, in Verbindung gebracht werden.

Und: «Bring das Telefon wieder in die Küche und stell es auf Flugmodus», mahnt eine Kollegin. Sie hat Angst, dass jemand ferngesteuert und unbefugt mithören könnte, wenn das Telefon im Wohnzimmer bleibt. Was mit moderner Informationstechnologie alles möglich ist, wisse man seit Edward Snowden.

Gefängnis wegen App-Download

Ahmed und seine Freunde haben Bekannte, die im Gefängnis sitzen, da sie ByLock, eine Kommunikations-App, auf ihr Telefon heruntergeladen haben sollen. Anderen wurde der Besitz einer Ein-Dollar-Note zum Verhängnis. Dies sollen Hinweise sein, dass sie mit dem Netzwerk von Fethullah Gülen, einem in den USA im Exil lebenden islamischen Prediger, in Verbindung stehen. Die türkische Regierung bezeichnet Gülen als Drahtzieher des gescheiterten Putsches.

Eigentlich hat Ahmed bereits einen Doktortitel und unterrichtete bis letzten Monat an einer renommierten türkischen Universität. Doch für ihn spielt es keine Rolle, was er in Holland tun wird. Hauptsache, er kommt weg aus der Türkei. Lieber heute als morgen, denn er gehört zum Netzwerk «Akademiker für den Frieden», das sich mit einer Unterschriftensammlung für ein Ende des Konfliktes zwischen den Kurden und den türkischen Sicherheitskräften einsetzte.

Entlassungen und eingefrorene Konten

Ruth Bossart

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Legende: SRF

Die Luzernerin Ruth Bossart berichtet seit drei Jahren für SRF aus der Türkei.

Diesen Aufruf haben mehr als 1100 türkische Wissenschaftler unterschrieben. Seither sind Dutzende festgenommen worden. Andere wurden entlassen und mit lebenslangem Berufsverbot belegt – wegen «Verbreitung von Terrorpropaganda». Auch Freunde und Kollegen von Ahmed. Die statuierten Exempel zeigen Wirkung. Ahmed hat Angst, dass er als nächstes dran sein könnte.

Seit dem Putschversuch wurden über 150'000 Beamte entweder verhaftet oder entlassen; nicht nur Akademiker sondern auch Richter, Polizisten, Staatsanwälte, Ärzte und Lehrer.

Ihnen wurden Bankkonten eingefroren, sie verloren jegliche Renten- und Versicherungsansprüche. Zehntausenden wurden die Pässe annulliert. Der türkische Staat schloss und enteignete im vergangenen Jahr über 900 Institutionen, darunter mehr als ein Dutzend Universitäten. Gemäss offiziellen Angaben sind das Vermögenswerte von umgerechnet über 11 Milliarden Franken (Stand 7.7.17).

Bürger als Hilfspolizisten

Bildschirm in der Metro von Istanbul.
Legende: Normalerweise wird auf diesem Bildschirm in der Metro Werbung gezeigt. Jetzt sucht die türkische Polizei Denunzianten. SRF

Um die türkische Gesellschaft von Terroristen und potentiellen Putschisten zu «säubern», rufen Sicherheitskräfte und Politiker, allen voran Präsident Erdogan und Ministerpräsident Yildirim, die Bevölkerung auf, Verdächtige zu melden.

In der Metro von Istanbul wurden auf den sonst für Werbung reservierten TV-Monitoren E-Mail-Adressen der Behörde platziert, die für solche Denunziationen zuständig sind.

Ein Hausmeister in der anatolischen Stadt Konya sah sich darum ermutigt, im Abfall der Bewohner zu spionieren und wurde prompt fündig. Er entdeckte Bücher von Fethullah Gülen, die jemand entsorgt hatte. Den Fund meldete er der Polizei und diese identifizierte anhand von Fingerabdrücken auf den gefundenen Büchern eine Bewohnerin des Hauses.

Letzte Woche wurde die junge Frau nach wochenlanger Polizeihaft bis zum Prozessbeginn freigelassen. Ihr drohen 15 Jahre Gefängnis wegen «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung».

Menschenrechtler als Putschisten beschuldigt

Auch die Menschenrechtler von Amnesty International und anderen NGOs, die letzte Woche auf einer der Prinzeninseln vor Istanbul eine Weiterbildung zum Thema Cybersicherheit besuchten, sind wahrscheinlich denunziert worden.

Die Polizei reagierte offenbar auf einen Fingerzeig aus der Bevölkerung und verhaftete die Teilnehmer aus der Türkei, Schweden und Deutschland direkt aus dem Unterricht heraus – darunter sogar den Hotelier, in dessen Räumlichkeiten der Workshop stattfand. Ihnen wird vorgeworfen, einen neuerlichen Staatsstreich zu organisieren.

Am Jahrestag des gescheiterten Putsches wollen sich Präsident Erdogan und seine Mitstreiter an verschiedenen Anlässen als Retter der Demokratie in der Türkei feiern lassen. Ahmed, der nach Holland auswandert, hat sich für Anfang August ein Flugticket nach Amsterdam gekauft.

*Name geändert

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