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Medizin im Umbruch Lebendige Organe auf einem Chip

Organ-on-a-Chip: Forscher züchten menschliches Gewebe auf Chips. Das soll zum Beispiel Tierversuche überflüssig machen.

Thimios Mitsiadis ist Zahnarzt und Biologe mit Leib und Seele. Er zeigt mir auf seinem Laptop das Bild eines Tumors in der Mundhöhle: «Die Patienten klagen dabei über unerträgliche Schmerzen», erzählt der Professor am Institut für Oralbiologie der Universität Zürich. Zusammen mit seinem Team untersucht er, wie sich Nerven in einem Tumor oder in den Zähnen ausbreiten. Dazu züchten die Forscher Nervenzellen auf einem Chip.

Pierrfrancesco Pagella ist ebenfalls Biologe und arbeitet am gleichen Institut. Er führt mich ins Labor, öffnet den Schrank zu einem Inkubator und entnimmt ein kleines Plättchen – den Organ-Chip, der ungefähr die Grösse eines USB-Speicher-Sticks hat. Während die Tür offen ist, hält der junge Forscher den Atem an, damit keine Keime in den Brutkasten gelangen.

Organe auf dem Chip

Unter dem Mikroskop wird der Aufbau des Organ-Chips sichtbar: Eine Trennwand teilt das Plättchen in zwei Kammern, rechts befindet sich eine Nervenzelle, links kleine Kügelchen, die zuvor in einem Wirkstoff getränkt wurden. In der Trennwand sind kleine Löcher angebracht, gerade gross genug, dass die feinen Verästlungen der Nervenzelle (Axon) hindurchwachsen können.

Mit Hilfe dieses Chips wollen die beiden Forscher herausfinden, welchen Effekt der Wirkstoff in den Kügelchen auf die Nervenzelle hat, ob sie sich von der Verbindung angezogen fühlt oder ob sie diesen meiden. Es ist ein Beispiel für ein Organ auf einem Chip: «Eine einfache Anordnung» meint Pierrfrancesco Pagella, es gebe schon viel komplexere Anordnungen.

Modell des menschlichen Körpers

An solchen anspruchsvollen Chips arbeitet Andreas Hierlemann, Professor für Biosystemtechnik an der ETH Zürich in Basel: «Wir versuchen, mehrere Gewebe, die auch im menschlichen Körper miteinander interagieren, auf einen Chip zu bringen, zum Beispiel Leber, Herz oder Tumore.»

Biologie profitiert von der Erfahrung der IT-Industrie

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Ausser dem Namen haben die Plättchen nicht viel mit den Chips aus der Computerindustrie gemeinsam: Gefertigt werden die Plättchen vorwiegend aus Glas oder Kunststoff. Silizium ist wegen seiner chemischen Eigenschaften ungeeignet. Digitale Technologie kommt wenn immer möglich ausserhalb des Chips zum Einsatz.

Auf dem Chip findet man winzige Strukturen – Kanäle für Flüssigkeiten oder Luft etwa – hergestellt mit einer Präzision von 5 Mikrometer. Zum Vergleich: Der Durchmesser eines menschlichen Haares beträgt etwa 100 Mikrometer.

Bei Herstellung der Chips können die Wissenschaftler von der Erfahrung profitieren, die bei der Produktion von Computer-Chips in den letzten Jahrzehnte gesammelt wurde. Sie benutzen zum Teil die gleichen Verfahren und Maschinen.

Damit das funktioniert, müssen die Wissenschaftler auf den Chips ähnliche Bedingungen schaffen wie im menschlichen Körper: Die Temperatur muss stimmen und die Gewebezellen müssen sich in alle Richtungen ausdehnen können. Eine Flüssigkeit versorgt die Zellen mit Nährstoffen und verbindet die Mini-Organe untereinander. Über diese Flüssigkeit tauschen die Organe auch Information untereinander aus, in dem sie chemische Substanzen abgeben.

Zeit und Geld sparen

Mit solchen Chips steht den Wissenschaftler ein lebendes Modell für Versuche zur Verfügung. Nach Bedarf kombinieren sie verschieden Organe auf einem Chip. Das Team von Andreas Hierlemann hat einen Tumor und eine Leber auf einem Chip untergebracht.

Die Forscher überprüften dann, ob ein neues Medikament das Wachstum des Tumors hemmt. Gleichzeitig sehen sie aber auch, ob der neuartige Wirkstoff unerwünschte Nebenwirkungen auf die Leber hat – und das in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung des Medikamentes.

Das spart viel Zeit und Geld, denn Nebenwirkung auf die Leber seien der häufigste Grund, warum Medikamente vom Markt zurückgezogen werden müssen, sagt Andreas Hierlemann.

Zurzeit arbeiten er und sein Team an einem Chip, mit dem sich Diabetes erforschen lässt. Dazu wollen die Wissenschaftler Gewebe einer Leber, einer Bauchspeicheldrüse, Muskel- und Fettzellen auf dem gleichen Chip miteinander verbinden. Die Forscher können dann das Zusammenspiel der Organe beobachten: Sie sehen, wie das System reagiert, wenn man Zucker dazu gibt oder was passiert, wenn die Bauchspeicheldrüse nicht richtig arbeitet.

Grosse Hoffnungen

Angefangen hat die Erforschung der Organ-Chips vor rund zehn Jahren am Wyss Institut der Universität Harward mit finanzieller Unterstützung des Schweizer Unternehmers und Mäzens Hansjörg Wyss. Die neuartigen Chips weckten anfangs grosse Hoffnungen:

  • Die Chips ermöglichen eine Forschung, die ohne Tierversuche auskommt.
  • Weil bereits in einem frühen Stadium mit menschlichem Organgewebe experimentiert wird und deshalb unerwünschte Nebenwirkung frühzeitig erkannt werden, soll die Entwicklung von Medikament viel billiger werden.
  • Die Chips könnten der personalisierten Medizin Vorschub leisten. Bevor in Zukunft eine Ärztin ein Medikament verschreibt, könnte sie mit Hilfe eines Chips beobachten, wie die Organe des Patienten oder ein Tumor darauf reagieren.

Die Grenzen des Machbaren

Doch die Entwicklung ist nicht so schnell fortgeschritten, wie anfangs erwartet. Viele Probleme sind komplexer als ursprünglich gedacht.

Andreas Hierlemann hat sein Ziel eines Stoffwechsel-Chips mit vier Organen noch nicht erreicht. Eine der grossen Herausforderungen bestehe darin, eine Flüssigkeit zu finden, in der sich alle diese verschiedenen Zelltypen züchten lassen, sagt der Forscher. Er glaubt deshalb nicht, dass man in Zukunft zwanzig Organe miteinander verbinden könne (Body-on-a-Chip), diese Komplexität sei nicht mehr zu beherrschen. Modelle mit vier, fünf Organen hält er jedoch für realistisch.

Für Thimios Mitsiadis sind Wissenschaftler wie Künstler: Sie dürfen sich bei den Visionen keine Grenzen setzen, alles soll möglich sein. So kann sich der gebürtige Grieche vorstellen, dass man in Zukunft die Riechzellen aus der Nase über Nervenzellen mit Hirnzellen verbinden kann. So liesse sich die Wirkung von Duftstoffen testen – ohne Versuchspersonen.

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