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Wenn die Psyche leidet «Bis 20 Prozent der Kinder erkranken einmal pro Jahr»

Kinderpsychiater Alain Di Gallo erklärt, was die Kinderseele heute krank macht.

SRF News: Alain Di Gallo, wie alt sind die Kinder, die psychiatrische Hilfe benötigen?

Alain Di Gallo: Wir betreuen Kinder von der Geburt bis circa 18 Jahren. Bereits Säuglinge können psychiatrische Hilfe benötigen. Natürlich arbeitet man bei Babys aber vor allem mit den Eltern.

Welches sind häufig auftretende Krankheitsbilder?

Bei Säuglingen geht es zumeist um Regulationsstörungen wie zum Beispiel häufiges Schreien oder Schlafstörungen. Bei Kindern kommen Angststörungen am häufigsten vor. Aber auch Zwänge und Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS oder Aggressivität zeigen sich oft und, vor allem bei Jugendlichen, Depressionen und Essstörungen.

50 Prozent aller psychischen Krankheiten beginnen vor dem 16. Lebensjahr

Gibt es heute mehr erkrankte Kinder als früher?

Heute ist man bezüglich psychischer Erkrankungen sensibler und sucht schneller Hilfe. Immer mehr Familien nehmen psychiatrische Hilfe in Anspruch. Es gibt aber keine statistischen Daten, die besagen, dass die psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Die Zahlen sind in den letzten Jahren stabil geblieben.

Wie sehen denn die Zahlen aus?

Zwischen 15 und 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben innert einem Jahr mindestens eine psychische Krankheit. Einige davon, zum Beispiel vorübergehende Angstzustände oder Ticstörungen, gehen spontan wieder zurück. Aber mindestens die Hälfte der erkrankten Kinder ist behandlungsbedürftig. Das klingt nach viel – man muss jedoch berücksichtigen, dass 50 Prozent aller psychischen Krankheiten vor dem 16. Lebensjahr beginnen. Das unterscheidet sie stark von den körperlichen Erkrankungen.

Fehlen in den ersten Lebensjahren zuverlässige und feinfühlige Beziehungen, ist das fatal für die Entwicklung.

Welches sind die Risikofaktoren für eine psychische Erkrankung des Kindes?

Es gibt drei Hauptfaktoren:

Die Gene: Bei vielen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen spielt die Vererbung eine Rolle.

Die ganz frühe Entwicklung: Die Zeit von der Schwangerschaft bis zum zweiten Lebensjahr ist elementar. So wirkt sich etwa Stress der Mutter bereits auf das ungeborene Kind aus. Fehlen in den ersten Lebensjahren zuverlässige und feinfühlige Beziehungen, ist das fatal für die Entwicklung.

Aktuelle Konflikte: Hierzu gehören etwa Trennungen, körperliche Erkrankungen oder ein belastender Milieuwechsel.

Gibt es Risiken, die vor allem der heutigen Zeit zuzuschreiben sind?

Die Herausforderungen haben sich sicherlich geändert. Die neuen Medien mit der ständigen Erreichbarkeit rund um die Uhr können Stress auslösen. Auch die sozialen Plattformen bergen Risiken. Kam es früher zum Ausschluss auf dem Pausenplatz, macht man heute jemanden in Gruppen über Facebook oder WhatsApp fertig.

Ein weiteres Phänomen unserer Zeit ist die virtuelle Welt. Ein Beispiel: Ein Jugendlicher hat bereits Dutzende Absagen für eine Lehrstelle erhalten. In einem PC-Kampfspiel ist er hingegen sehr erfolgreich und führt eine ganze Truppe. Für den Jugendlichen ist die Verführung gross, sich vor allem auf die Online-Realität zu konzentrieren. Hier muss sich die Offline-Realität gegenüber der Online-Realität bewähren. Und es ist nicht so selten, dass Jugendliche in der virtuellen Welt versinken. Doch man darf nicht vergessen: Die meisten Kinder und Jugendlichen können problemlos mit der medialen Präsenz umgehen.

Inwiefern spielt der Leistungsdruck in der Schule eine Rolle?

Das ist ein grosses Thema. Die Schule ist durchlässiger geworden. Früher ging man entweder in die Real-, die Sekundarschule oder ins Gymnasium – und da ist man dann meist geblieben. Heute kann man durch Leistung aufsteigen, aber auch runterfallen. Die Jugendlichen von heute sind ehrgeizig und leistungsorientiert – und viele geben an, sich selber unter Druck zu setzen. Diejenigen, die damit überfordert sind, können eine psychische Krankheit entwickeln, zum Beispiel in eine Depression fallen.

Kinder sind häufig Symptomträger – sie tragen mit einem Symptom ein Problem der Familie nach aussen.

Sind psychische Probleme auch eine Frage des Wohlstandes bzw. der sozialen Schicht?

Grundsätzlich sind alle Schichten betroffen. Was zählt, sind eine gute Beziehungsqualität und möglichst wenig destruktiver Entwicklungsstress. Natürlich kommt es in sozial schwierigen Verhältnissen und Armut zu mehr Stresssituationen. Wir haben sicherlich auch mehr Kinder in Behandlung, die in einer Trennungssituation leben. Aber es ist nicht in allen Fällen ein Problem, wenn Eltern sich trennen. Es ist Stress, ja. Aber Stress und Herausforderungen sind lediglich Risikofaktoren, die nicht zwingend zu einer psychischen Krankheit führen.

Was ist für eine erfolgreiche Behandlung wichtig?

Kinder- und Jugendpsychiatrie ist immer auch Familienpsychiatrie. Wir können ein Kind nur in seinem sozialen Kontext beurteilen. Kinder sind häufig Symptomträger – sie tragen mit einem Symptom ein Problem der Familie nach aussen. So kann es beispielsweise sein, dass ein Kind eine Angststörung aufweist und nicht mehr in die Schule will. Der Grund dafür ist aber, dass es seine Mutter nicht alleine lassen will, weil es regelmässig zu Gewalt zwischen den Eltern kommt.

Gibt es Fälle, die nur schwer behandelbar sind?

Aus meiner Erfahrung sind diejenigen Kinder sehr schwer zu behandeln, die schon in der frühen Entwicklung desolate Beziehungserfahrungen machen mussten und viele Traumata erlebt haben. Das schädigt das Beziehungsverhalten der Kinder häufig sehr nachhaltig. Dieses fehlende Urvertrauen lässt sich nicht so einfach kompensieren.

Das Gespräch führte Silvana Berini.

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