Es ist eine der wichtigsten Fragen, um den menschlichen Schaden durch das neue Coronavirus abschätzen zu können: Wie stark wird die zweite Welle die Schweizer Spitäler auslasten oder gar überlasten?
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, zwei Werte anzuschauen. Zum einen die Auslastung der zertifizierten Intensivpflegebetten (IPS-Betten). Intensivpflegebetten sind aufwändig ausgerüstete Plätze mit dazugehörigen Mess- und Beatmungsgeräten, Monitoren, Anschlüssen und hochspezialisiertem Fachpersonal, um diese Geräte zu bedienen. Um die Pflegequalität zu gewährleisten, vergibt die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) Zertifikate. Sind diese Betten belegt, bedeutet das, dass das Spital an seiner Auslastungsgrenze angelangt ist. Wie viele zertifizierte Betten derzeit im Einsatz sind, ist der untenstehenden Grafik zu entnehmen (gestrichelte Linie).
Wenn Erkrankte in ein Spital eingewiesen werden, dauert es bei schweren Covid-19-Verläufen mehrere Tage, bis sie auf der Intensivstation landen. Die montags bis freitags aktualisierten Daten zeigen, wie die zweite Welle der Pandemie die Spitäler trifft. Die Grafik zur Auslastung der Betten durch Covid-19-Erkrankte und anderweitig Erkrankte sowie die Anzahl noch freier IPS-Betten zeigt, wie sich die Situation entwickelt. Die gestrichelte Linie zeigt jeweils die Zahl der zertifizierten Betten, die aktuell im Einsatz sind. Die Daten haben aufgrund der Datenprozessierung jeweils rund 24 Stunden Verzögerung zum realen Geschehen auf den Intensivstationen.
Die Zahl der zertifizierten IPS-Betten im Einsatz kann dabei leicht variieren, weil nicht immer alle zertifizierten Betten als betriebsbereit gemeldet sind – etwa, wenn es an Personal mangelt. Sind die zertifizierten IPS-Betten belegt, kann ein Spital aber sogenannte «Ad Hoc»-Betten aufstellen. Diese sind zusätzliche Betten, die temporär in anderen Bereichen in den Spitälern – etwa Operationssälen oder Aufwachräumen – aufgebaut werden, aber nicht durch die SGI zertifiziert sind. Also alle Betten, die die gestrichelte Linie in der oberen Grafik überlappen. Es ist daher möglich, dass diese Betten nicht mit der nötigen Technik ausgerüstet sind und dass es zu wenig Fachpersonal gibt, um Patientinnen und Patienten in diesen Betten adäquat zu betreuen. Kommen Ad-Hoc-Betten zum Einsatz, muss deshalb mit Abstrichen in der Behandlungsqualität gerechnet werden. Obwohl ein Spital dank Ad-Hoc-Betten möglicherweise nicht komplett ausgelastet ist, muss damit gerechnet werden, dass das Fachpflegepersonal bereits an seinen Belastungsgrenzen arbeitet.
Warum nahm die Zahl der Nicht-Covid-Erkrankten ab Oktober ab?
In den letzten Jahren war eine Auslastung der Intensivpflegestationen bei rund 75 Prozent Alltag. Diese lässt sich etwa mit der Anzahl wählbarer Eingriffe steuern – rund 30 Prozent der IPS-Fälle kommen von Operationen, die nicht dringend notwendig sind, deren Patienten aber danach trotzdem für ein paar Tage ein IPS-Bett benötigen; beispielsweise am Herzen oder am Hirn. Weil immer mehr Kantone solche wählbare Eingriffe absagen oder verbieten, sinkt die Zahl der Non-Covid-19-Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen von alleine. Gleichzeitig nehmen aber die Covid-19-Fälle zu. Bei ihnen gilt: Ist ein IPS-Bett mal belegt, bleibt es das über mehrere Wochen. Und auch wenn mit dem Verzicht von Wahloperationen mittelfristig ein Teil der Betten frei wird, so ist doch weiterhin mit Nicht-Corona-Notfällen wie Herzinfarkten oder schweren Autounfällen zu rechnen.
Rund zwei Drittel der Corona-Fälle mit schwerem Verlauf, die in den IPS-Betten gepflegt werden, müssen über längere Zeit künstlich beatmet werden. Folgende Grafik zeigt die Beanspruchung der Beatmungsgeräte, sowohl durch Covid-19-Erkrankte als auch durch anderweitig Erkrankte.
Wie gut sind diese Daten?
Thierry Fumeaux, Mitglied der «Swiss National COVID-19 Science Task Force» und ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin SGI, war am Aufbau von «ICU-Monitoring» beteiligt. Man habe seit März hart daran gearbeitet, die Qualität der Daten zu verbessern, sagt Fumeaux: «Es ist unerlässlich, dass diese Informationen vollständig, genau und aktuell sind. Die SGI hat ihre Mitglieder daran erinnert, und die Leiter der einzelnen Intensivstationen sind dafür verantwortlich, die in der IES dokumentierten Daten täglich zu überprüfen. Es ist auch wichtig, dass Spitäler und Kantone die Qualität dieser Daten sicherstellen.» Nur so sei es möglich, eine verlässliche 7-Tage-Prognose zu liefern.
Trotzdem kann es zu Meldeverzögerungen oder Eintragungsfehlern kommen. Es gilt deshalb: Die vorliegenden Daten sind die besten zur Verfügung stehenden Daten – fehlerfrei sind sie nicht. Gerade im Feld der Notfallmedizin in der jede Sekunde zählt, kann sich die Situation schneller ändern, als die Grafiken es abbilden können.
Die Lage in den Kantonen
Nicht alle Kantone verfügen über Spitäler mit grossen Intensivstationen. In diesen Fällen werden Erkrankte in umliegende Spitäler verlegt. Um die Zahlen trotzdem auf ein kantonales Niveau herunter zu brechen, zeigt die Tabelle die gemeldete Anzahl von Covid-19-Fällen auf den Intensivstationen. Zusätzlich wird die Auslastung der zertifizierten Betten im Einsatz in Prozent gezeigt sowie die Auslastung aller verfügbaren IPS-Betten in Prozent, inklusive Ad-Hoc-Betten. Dabei wird nicht unterschieden, ob ein Bett mit einem Covid-19-Fall oder anderweitig Erkrankten belegt ist. Anhand des Modells des ETH-Forscherteams lässt sich ausserdem ein 7-Tage-Trend prognostizieren: Steigt die Auslastung in der nächsten Woche, zeigt der Pfeil nach oben. Verbessert sich die Situation, zeigt der Pfeil nach unten. Auch hier gilt: Die Daten sind aufgrund der Prozessierung um 24 Stunden verzögert.
Teilweise verfügt ein Kanton auf Papier über mehr zertifizierte Betten, als effektiv im Einsatz sind. Etwa, weil eine Abteilung inzwischen geschlossen wurde oder nicht genügend Personal vorhanden ist, um das Bett zu betreuen. Diese Betten wurden in der obigen Tabelle herausgerechnet, um ein besseres Bild der aktuellen Situation zu bekommen.
Was geschieht bei einer hohen Auslastung der Intensivbetten?
Die Auslastung der Spitäler ist in der aktuellen Corona-Krise von zentraler Bedeutung. Stossen die Spitäler und speziell die Intensivstationen mit ihren zertifizierten IPS-Betten an ihre Kapazitätsgrenzen, ist die erste Möglichkeit, die Patienten in andere Spitäler im selben regionalen Spitalnetzwerk zu verlegen. Falls diese einen IPS-Auslastungsgrad von 80 Prozent erreicht haben, wovon 20 Prozent Covid-19-Erkrankte sein müssen, können sich die Spitäler an den Koordinierten Santitätsdienst, Link öffnet in einem neuen Fenster (KSD) des Bundes wenden. Diese koordinieren eine Verlegung von Patienten mithilfe der Rega, bis ein Grossteil der zertifizierten IPS-Betten in der Schweiz (rund 1000 Betten) belegt sind. Danach kommen auch sogenannte «Ad-Hoc-Betten» zum Einsatz – zusätzliche Betten und Geräte, etwa der Armee, die allerdings nicht offiziell als IPS-Betten zertifiziert sind. Das heisst, bei der Behandlung in Ad-Hoc-Betten müssen gemäss KSD Abstriche in allen nicht intensiv-medizinisch relevanten Bereichen gemacht werden: Beim Personal (Pflege, Ärzte, Reinigung, Administration), Geräte und Maschinen, medizinisches Verbrauchsmaterial, Medikamente. Falls möglich, sollen auch Spitäler im nahen Ausland nach freien IPS-Betten angefragt werden.
Ist dies alles nicht mehr möglich, kommt es zu einer Selektierung der Patienten, der sogenannten harten Triage. Das heisst, die Ärztinnen und Ärzte müssen entscheiden, welche Patientinnen und Patienten behandelt werden sollen und welche nicht. Für diese nicht wünschenswerte und für alle belastende Situation hat die Schweizerische Akademie der Wissenschaften zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin Richtlinien definiert, die bei der Triage von IPS-Engpässen, Link öffnet in einem neuen Fenster angewandt werden sollen. Demgemäss sollen vor allem Patientinnen und Patienten ein IPS-Bett bekommen, deren kurzfristige Prognose am vielversprechendsten ist – egal, ob sie an Covid-19 oder etwas anderem erkrankt sind.
Eine wichtige Ressource, die bei all diesen Zahlen zu kurz kommt, ist das verfügbare Intensivpflegefachpersonal. Hier gibt es keine verfügbaren Zahlen, die verlässlich aufdatiert werden. Eine Überlastung des Gesundheitsystems kann aber auch eintreten, wenn es zwar noch genügend Betten hat, aber kein verfügbares Personal mehr, das eingesetzt werden könnte.
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