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Politiker fordern historische Aufarbeitung
Aus Schweiz aktuell vom 19.01.2018.
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Psychiatrische Kliniken Politiker fordern Aufarbeitung der Medikamententests

Im Kanton Bern wurden in den 50er- und 60er-Jahren mit noch nicht zugelassenen Wirkstoffen experimentiert. Betroffen waren 200 Patienten.

Die Testmedikamente in Bern und Münsingen trugen Namen wie «MF 10» oder «Ro-4-0403». Gratis zur Verfügung gestellt von der Pharmaindustrie. In Münsingen wurde auch «Marsilid Roche» getestet. An 41 Frauen und 16 Männer, sie waren depressiv oder schizophren.

Die Wirkung des Präparats war in vielen Fällen positiv, die Patienten fühlten sich laut dem Testbericht besser. In drei Fällen musste der Test jedoch in Folge der heftigen Nebenwirkungen wie Kollaps abgebrochen werden. Ein 79-jähriger Patient verstarb während dem klinischen Test 1958 nach einer Lungenentzündung: «Exitus an Herzversagen» notierte der Arzt.

Laut Historikern ist klar, dass die Patienten nicht in jedem Fall über die Gefahr der Tests informiert wurden und auch die Einwilligung der Patienten wurde nicht in jedem Fall eingeholt.

Patriarchalisches System

Ursula Marti, SP-Parteipräsidentin des Kantons Bern, erfährt durch «Schweiz aktuell» von den Tests in den 50er- und 60er-Jahren. «ich bin entsetzt. Die Medikamente wurden an Patienten getestet, offenbar ohne ihr Wissen. Auch wenn es eine andere Zeit war mit weniger Sensibilität für die Patientenrechte war das ein Unrecht» erklärt Ursula Marti. Auch Rolf Ineichen, Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen, wusste nichts von den Tests:

«Es war ein patriarchalisches System, der Arzt bestimmte, was das Richtige ist für die Patienten, Einwilligungen gab es damals noch keine. Es herrschten Missstände, die jetzt zu Recht aufgedeckt wurden».

Dissertation untersucht Tests

Ursula Marti fordert eine Aufarbeitung dieses medizinhistorischen Kapitels im Kanton Bern: «Ich werde dieses Thema im Grossen Rat zur Sprache bringen.

Mit den vorliegenden Dokumenten ist es eine Pflicht, diese Medikamententests zu untersuchen». BDP-Grossrätin Anita Herren-Brauen pflichtet bei und ergänzt, «dass es Sinn machen würde, die Thematik schweizweit zu untersuchen, da es in Bern nicht nur Berner Patienten hatte».

Der zuständige Regierungsrat Pierre Alain Schnegg bestätigt, dass die Universität Bern eine Dissertation in Auftrag gegeben hat, die die Medikamententests untersucht: «Mit ersten Ergebnissen rechnen wir noch in diesem Jahr. Danach stellt sich die Frage, ob es noch weitere Untersuchungen braucht.»

Und wie sieht es heute aus? Fragen an Swissmedic

Françoise Jaquet

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Leiterin Abteilung klinische Versuche Swissmedic

Über 60 Jahre sind seit diesen Fällen vergangen. SRF News hat nachgefragt, wie heute damit umgegangen wird. Und wie vorgegangen wird, wenn Medikamente auf den Markt kommen sollen.

SRF: Wie überwacht Swissmedic die klinischen Tests bei Psychopharmaka heute?

Françoise Jaquet: Heutzutage würde ein solches Vorgehen klar gegen das Gesetz verstossen und wäre gar nicht möglich. Um einen Studienversuch anfangen zu können, müssen zwei Bewilligungen vorhanden sein. Diejenige der Kommission und diejenige von Swissmedic. Nach der Bewilligung kann Swissmedic jederzeit Inspektionen durchführen und z.B. auch eine Studie stoppen.

SRF: Kann und muss man denn in jedem Fall das Einverständnis des Patienten einholen? Zum Beispiel, wenn jemand schwer psychisch krank ist.

Urteilsfähige Patienten können klar ablehnen. Wenn sie das nicht können, dürfen berechtigte Personen für diesen Patienten entscheiden. Versuche an urteilsunfähigen Patienten dürfen nur durchgeführt werden, wenn die gleichen Erkenntnisse nicht auch an urteilsfähigen Patienten erworben werden können.

Bis ein Medikament auf dem Markt zugelassen wird, dauert es sehr lange. Wie muss man sich das vorstellen.

Es gibt zuerst Forschungen auf Zellen und Tieren. Erst dann entscheidet man überhaupt, ob man auch an Menschen testen will. Dann wird das Produkt an einigen wenigen gesunden Probanden getestet und dann an einer kleinen Anzahl von Patienten. Und erst wenn dann die Wirksamkeit und das Sicherheitsprofil geeignet sind, wird man an einer grösseren Anzahl von Patienten testen. Bei jeder Stufe kann die Entwicklung des Produktes gestoppt werden.

Bei früheren Fällen war von gravierenden Nebenwirkungen, auch von Todesfällen, die Rede. Wie sieht es heute aus?

Es gibt immer noch Meldungen von schweren Nebenwirkungen und Todesfällen. Zum Glück sehr selten. Jede Meldung wird sehr sorgfältig überprüft in Bezug zum Produkt und die Kenntnisse darüber, im Zusammenhang mit der vorliegenden Krankheit. Es kann auch sein, dass beim Patienten dieser Versuch die letzte Chance ist. Deswegen muss immer abgewogen werden, ob der Versuch abgebrochen werden soll oder nicht. Schlussendlich ist die Frage, ob das Risiko grösser ist als der Nutzen.

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