Vor dem Hintergrund der hängigen Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative hat der Nationalrat einen weiteren Schritt zur Ausweitung des Freizügigkeitsabkommens (FZA) auf das jüngste EU-Mitglied Kroatien gemacht. Der Entscheid im Erstrat fiel mit 122 gegen 64 Stimmen bei einer Enthaltung.
Wegen Zweifeln an der Verfassungsmässigkeit des Beschlusses wollte eine Minderheit gar nicht auf die Vorlage eintreten. Denn seit Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative am 9. Februar 2014 verbietet die Verfassung eigentlich neue völkerrechtliche Verträge, die keine Steuerung der Zuwanderung erlauben. Der Nichteintretensantrag der SVP unterlag mit 120 gegen 62 Stimmen bei einer Enthaltung.
Polemik der SVP
«Ich staune oder finde es schon fast bewundernswert, mit was für einer frivolen Leichtfertigkeit Sie sich über Verfassungsgrundsätze hinwegsetzen», sagte Roger Köppel (SVP/ZH) an die Adresse von Justizministerin Simonetta Sommaruga. Der Bundesrat habe sich beim Kroatien-Dossier erpressen lassen. Es grenze schon fast an «Selbsterpressung», und der Bundesrat sei schon fast dankbar für jede neue EU-Drohung.
SP-Fraktion verlässt mit Sommaruga den Saal
Sommaruga verliess den Saal, als Köppel ihr vorwarf, sie habe es nicht so gern, wenn man die Dinge beim Namen nenne: «Sie reden lieber von Plangenehmigungsverfahren statt von Enteignungen, wenn Sie den Leuten die Häuser und Wohnungen wegnehmen wollen», sagte der «Weltwoche»-Verleger. Die SP-Fraktion folgte ihrer Bundesrätin.
Gelbe Karte für Köppel
Der Auftritt Köppels könnte für den Zürcher Nationalrat noch ein Nachspiel haben. FDP-Fraktionspräsident Ignazio Cassis intervenierte nach Absprache mit anderen Fraktionspräsidenten bei Nationalratspräsidentin Christa Markwalder und forderte diese auf, Köppel für seinen Auftritt zu zitieren. Köppel ignorierte jedoch Markwalders Einladung zum klärenden Gespräch.
Ich staune oder finde es schon fast bewundernswert, mit was für einer frivolen Leichtfertigkeit Sie sich über Verfassungsgrundsätze hinwegsetzen.
Sommaruga machte dann am Nachmittag deutlich, dass der Bundesrat ermächtigt werde, das Protokoll zu ratifizieren. Diese Ermächtigung verstosse nicht gegen die Bundesverfassung, weil sie noch keine definitive Willenskundgebung der Schweiz darstelle. Die Ratifizierung, also die Übergabe der Dokumente an die EU, könne bis Februar 2017 erfolgen, falls nun im Sommer dieses Jahres eine einvernehmliche Lösung der Zuwanderungsfrage mit Brüssel gefunden werde: «Man kann das Kroatien-Protokoll ratifizieren, wenn eine FZA-konforme Lösung vorliegt.»
Der Rechtswissenschaftler Hans-Ueli Vogt (SVP/ZH) betonte, dass es gar keine verfassungskonforme Anpassung des Personenfreizügigkeitsabkommens geben könne. Um den Volkswillen durchzusetzen, müssten, falls nötig, bilaterale Verträge gekündigt werden.
Horizon 2020 steht auf dem Spiel
Das Protokoll zur Ausweitung der FZA auf Kroatien war von Staatssekretär Mario Gattiker bereits am 4. März unterzeichnet worden. Bei der Ausdehnung des FZA auf Kroatien geht es ganz zentral darum, die Schweiz am Forschungsabkommen Horizon 2020 der EU voll zu assoziieren.
Denn ohne Ratifikation bis Februar 2017 hätte die Schweiz nur noch den Status eines Drittstaats. Schweizer Forschende könnten sich dann nur noch an bestehende Projekte als Drittstaat-Partner ohne Finanzierung durch die EU anschliessen. Dies würde auch der Reputation des Forschungsstandortes Schweiz schaden.