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IWF-Chefin Kristalina Georgiewa im Exklusiv-Interview
Aus News-Clip vom 11.05.2022.
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IWF-Chefin im Interview «Dieser Krieg ist ganz klar ein grosser Rückschlag für die Welt»

Lieferkettenprobleme in China, eine anziehende Inflation, der Ukraine-Konflikt und höhere Rohstoffpreise – über der Weltwirtschaft ziehen nach der Corona-Pandemie schon die nächsten dunklen Wolken auf. Eine Erholung ist in weite Ferne gerückt, die Unsicherheit ist Gift für die Wirtschaft. Es gebe allen Grund zur Besorgnis, sagt IWF-Chefin Kristalina Georgiewa im exklusiven Interview mit SRF.

Kristalina Georgiewa

Kristalina Georgiewa

Direktorin Internationaler Währungsfonds

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Seit 2019 ist die bulgarische Ökonomin und Politikerin Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Vor ihrer Amtsaufnahme beim IWF war sie für die Weltbank und die Europäischen Kommission tätig.

SRF: Beginnen wir mit der Ukraine. Viele Leute würden sagen, dass wir uns jetzt in einer völlig neuen Weltordnung befinden, vor allem in Europa. Sehen Sie das auch so?

Kristalina Georgiewa: Es ist ein unvorstellbares Ereignis, das stattgefunden hat: wieder ein Krieg in Europa. Wieder sind Millionen von Menschen vertrieben worden. Und natürlich ist auch die Reaktion in Form von Sanktionen beispiellos. Die Welt wird nach diesem Krieg nicht mehr dieselbe sein, zumindest in dreierlei Hinsicht. Erstens gibt es Auswirkungen darauf, wie die Energiezukunft aussieht. Wie wollen wir sicherstellen, dass unsere Volkswirtschaften und unsere Bevölkerung über eine sichere Energieversorgung verfügen? Zweitens: Wie Länder über ihre Reserven nachdenken und wie sie ihre eigene Position sichern wollen. Und drittens bin ich sehr besorgt, dass es zu weiteren Spannungen in der Welt kommen könnte. Und da ich während des Kalten Krieges gelebt habe – und zwar auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs –, bete ich so sehr, dass wir keinen zweiten Kalten Krieg erleben werden.

Ich bin sehr besorgt, dass es zu weiteren Spannungen in der Welt kommen könnte. Ich bete, dass wir keinen zweiten Kalten Krieg erleben.

Sie kommen aus Bulgarien. Ihr Heimatland liegt ganz in der Nähe der Ukraine. Fühlen Sie sich besonders betroffen von dem, was dort vor sich geht? Fühlen Sie mit dem ukrainischen Volk, das jetzt sehr leidet?

Ich habe eine sehr starke Verbindung zur Ukraine. Mein Bruder ist mit einer Ukrainerin verheiratet und er lebt in Charkiw, das praktisch jeden Tag bombardiert wird. Ich spreche regelmässig mit ihm und erfahre von ihm, wie sich die Lage von Tag zu Tag verschlechtert. Aber auch darüber, wie stark die Solidarität des ukrainischen Volkes ist: Sie ist sehr stark. Für Länder, die aus einer Diktatur herausgekommen sind, ist es sehr schwer, diese Art von Missbrauch der Freiheiten mitzuerleben. Aber es ist auch so dramatisch, mit der Grausamkeit von Menschen konfrontiert zu werden, von der wir dachten, dass sie in Europa nie passieren würde.

Was tut der IWF, um die Ukraine zu unterstützen?

Wir können eine Menge tun. Und wir tun es auch. Als der Krieg begann, haben wir der Ukraine eine finanzielle Soforthilfe in Höhe von 1.4 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Und wir haben unsere Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden vom Fokus auf Reformen, die im Moment natürlich kein Ziel sein können, auf das Krisenmanagement verlagert.

Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir ein starker Partner beim Wiederaufbau der Ukraine sein.

Wir helfen ihnen, ihre Dienstleistungen und die Versorgung der Bevölkerung so zu gestalten, dass sie in das aktuelle Umfeld passen. Wir arbeiten mit unseren Partnern zusammen, um sicherzustellen, dass der ukrainische Finanzbedarf gedeckt wird, damit das Land nicht in eine monetäre Finanzierung einsteigen muss, die letztendlich zu einer Hyperinflation führen würde. Und wenn der Krieg vorbei ist, werden wir ein starker Partner beim Wiederaufbau der Ukraine sein.

Unterstützen Sie auch Länder, die jetzt ebenfalls betroffen sind? Zum Beispiel Länder, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben: Polen, Moldawien oder Bulgarien?

Wir sind gerade dabei, eine zusätzliche Finanzierung für Moldawien abzuschliessen, indem wir ein bestehendes Programm aufstocken. 200’000 Menschen sind nach Moldawien geflüchtet, und jetzt sind es sogar schon 400’000 Flüchtlinge in einem Land mit 2.4 Millionen Einwohnern. Bei Polen prüfen wir die Anpassungen der Finanzpolitik. Zum jetzigen Zeitpunkt braucht das Land keine Finanzierung durch den IWF. Für die anderen Länder, die von diesem Krieg betroffen sind –  Zentralasien ist eng mit Russland verflochten bis hin zu Ländern in Afrika, Ägypten importiert 80 Prozent seines Getreides aus Russland und der Ukraine –, für diese Länder arbeiten wir bereits an Programmen.

Sie helfen auch Ländern, die viel Getreide aus der Ukraine oder Russland importieren. Glauben Sie, dass es im Norden Afrikas eine grosse Nahrungsmittelkrise geben könnte?

Es gab bereits vor Kriegsbeginn Warnzeichen einer Nahrungsmittelkrise, weil es in der Sahelzone und am Horn von Afrika zu Ernteausfällen kam. Angesichts dieser enormen Auswirkungen auf die Versorgung ist die Lage in vielen Ländern katastrophal. Wir sind sehr besorgt und deshalb arbeiten wir mit anderen Institutionen wie der Weltbank und dem Welternährungsprogramm zusammen, damit wir einen gemeinsamen Überblick über die Lage bekommen. Wir betrachten den Zahlungsbilanzbedarf. Haben die Länder das Geld, um Lebensmittel zu diesen viel höheren Preisen zu kaufen? Aber wir bemühen uns auch um eine Verbesserung der Handelsbeziehungen, damit wir nicht in eine Situation geraten, in der einige Länder Lebensmittel über ihren eigenen Bedarf hinaus aufbewahren. Und aus diesem Grund ist ein weiterer Partner, den wir haben, die Welthandelsorganisation.

Die G7 wollen ein Öl-Embargo gegen Russland. Befürworten Sie das? Das würde die Energiepreise noch einmal in die Höhe treiben.

Das ist eine politische Entscheidung der G7, und wir kommentieren keine politischen Entscheidungen. Wir befassen uns mit den wirtschaftlichen Aspekten der Geschehnisse und damit, wie die Situation für die Weltwirtschaft verbessert werden kann.

Die Schweiz wird oft für ihren Umgang mit den Sanktionen gegen Russland kritisiert. Haben Sie dazu eine Meinung?

Es ist eine souveräne Entscheidung und es ist eine politische Entscheidung.           

Ein weiteres Problem ist die Inflation. Die Inflationsraten sind hoch: 8 Prozent in den USA, 7 Prozent in der Eurozone. Machen die Zentralbanken in diesem Kampf gegen die Inflation genug?

Die Inflation ist ein aktuelles und ernstes Problem. Sie wird durch zwei Faktoren angeheizt: erstens durch die Pandemie und die Unterbrechungen auf der Angebotsseite. Und zweitens durch den Krieg und die steigenden Rohstoffpreise. Wir sehen heute aber, dass die Zentralbanken sich der Notwendigkeit einer Straffung der finanziellen Bedingungen sehr bewusst sind und sich sehr darauf konzentrieren, zu verstehen, wie weit und wie schnell sie gehen müssen. Wir sind sehr für ein entschlossenes Vorgehen. Wir sind jedoch besorgt darüber, dass eine Verschärfung der finanziellen Bedingungen für viele Schwellen- und Entwicklungsländer zu einer höheren Schuldenlast führt und ihre Erholung von der Coronakrise beeinträchtigen kann. Diese Erholung ist noch nicht abgeschlossen.                

Sie haben im Dezember in einem Interview gesagt, dass die Inflationsrate in Europa vorübergehend sei und in den nächsten Monaten zurückgehen werde. Würden Sie das immer noch sagen? Oder werden die Energiepreise hoch bleiben und damit die Inflation in Europa langanhaltend?

Vor dem Krieg haben wir nur einen Faktor auf der Angebotsseite berücksichtigt, nämlich die Lieferketten-Unterbrüche. Jetzt sind die Bedingungen viel komplexer. Nichtsdestotrotz: Unsere Projektionen für 2023 basieren auf entschlossenen Massnahmen der Zentralbanken, um die Inflation zurückgehen zu lassen.

Die Lieferketten-Unterbrüche haben alle gelehrt, dass es mehr Diversität geben sollte – was wir importieren und woher wir es importieren.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass wir in einer sehr unsicheren Zeit leben. Und wir müssen anerkennen, dass es einige bedeutende strukturelle Verschiebungen gibt, die stattfinden. Zum Beispiel: Die Lieferketten-Unterbrüche haben alle gelehrt, dass es mehr Diversität geben sollte – was wir importieren und woher wir es importieren. Der durch den Krieg verursachte Energieschock hat zu der Erkenntnis beigetragen, dass man Entscheidungen nicht mehr nur auf der Grundlage einer eng definierten wirtschaftlichen Effizienz treffen kann. Die Versorgungssicherheit ist ein sehr wichtiger Faktor geworden. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass wir nicht mehr in einer Welt des «just in time» leben. Wir leben in einer Welt von «just in case». Und deshalb ist der wahrscheinliche Anstieg der Produktionskosten ein Faktor, den wir berücksichtigen müssen, wenn wir über das künftige Preisniveau nachdenken. 

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IWF warnt vor höherer Schuldenlast für Schwellenländer
Aus Tagesschau vom 11.05.2022.
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Und wenn die Zentralbanken die Zinssätze erhöhen, wird das eine Gefahr für das globale Wachstum sein?

Natürlich stellt das eine Gefahr für das globale Wachstum dar. Denken Sie an das Jahr 2020. Überall haben die Regierungen mehr Kredite aufgenommen, der höchste Schuldenzuwachs seit dem Zweiten Weltkrieg. 2021 war es kein Problem, diese Schulden zu bedienen. Für einige Länder war der Schuldendienst sogar billiger, weil die Zinssätze im negativen Bereich lagen. Das gilt 2022 nicht mehr. Die Kosten für den Schuldendienst steigen und steigen. Dadurch wird ein Teil des Spielraums für Investitionen in soziale Dienstleistungen und in die Wirtschaft aufgezehrt. Ausserdem sinkt die Nachfrage nach Krediten, weil es teurer wird, sie zu bekommen. Das ist sehr beunruhigend für eine Weltwirtschaft, die mit einer sehr gefährlichen Divergenz konfrontiert ist. Zwischen den Industrieländern – die meisten haben sich bereits wieder auf ihr Niveau vor der Pandemie erholt – und den Schwellen- und Entwicklungsländern, die sich noch nicht erholt haben. Selbst im Jahr 2024 werden sie unseren Projektionen zufolge noch 6 Prozent unter ihrem Niveau vor der Pandemie liegen. Wenn die hohen Zinssätze Sand ins Getriebe streuen, können die Wachstumsprognosen in Mitleidenschaft gezogen werden. Und ich kann Ihnen sagen, wir haben gerechnet. Wir sprechen von einem potenziell um 2 Prozent geringeren Wachstum in dieser Welt, die von einem Krieg betroffen ist. 

Wie lautet denn Ihre Prognose für das Wachstum im Jahr 2022? Haben Sie sie in den letzten zwei Monaten nach unten korrigiert?

Bedauerlicherweise, ja. Wir hatten im Oktober 4.9 Prozent prognostiziert. Wir haben erkannt, dass wir das nach unten korrigieren mussten. Wir sind auf 4.6 Prozent gesunken. Und jetzt sind wir weiter auf 3.6 Prozent gesunken.

Dieser Krieg ist ganz klar ein grosser Rückschlag für die Welt.

Betrachten Sie unsere Wachstumsprognosen im Vergleich zu dem, was wir im Jahr 2021 erreicht haben: 6.1 Prozent, runter auf 3.6 Prozent – in einer Wirtschaft, die sich noch nicht vollständig erholt hat. Dieser Krieg ist ganz klar ein grosser Rückschlag für die Welt. 

3.6 Prozent klingt für Schweizer Verhältnisse nicht schlecht, aber im globalen Massstab ist das natürlich nicht sehr gut.          

Das ist nicht sehr gut. Und dann wurde auch das Schweizer Wachstum von 3 Prozent auf 2.2 Prozent gesenkt. Die ganze Welt geht in den Wachstumsaussichten nach unten - ein Drama. Wir haben 143 Länder herabgestuft. Das sind 86 Prozent des globalen BIP, das heisst, wir haben keine Motoren. Das kann die Dynamik, die heute in Gang ist, verändern. 

Und dann ist da noch China, das eine lange Zeit eine Wachstumslokomotive war. Und dort sehen wir, dass die Pandemie wieder zunimmt. Wie gefährlich ist das für die gesamte Weltwirtschaft?

Sehr bedeutsam. Wir haben China auf 4.4 Prozent herabgestuft. Das Ziel der chinesischen Behörden ist es, 5.5 Prozent zu erreichen. Damit wird es sehr schwierig. Ihre Null-Covid-Politik muss wirklich noch einmal überdacht werden.

Chinas Null-Covid-Politik muss wirklich noch einmal überdacht werden.

Wir haben eine Menge über diese Pandemie gelernt. Und wenn das nicht geschieht, wird China Lockdowns erleben, die erhebliche Auswirkungen auf das Land und die Welt haben werden. China hat aber einen grossen politischen Spielraum - und die gute Nachricht ist, es beginnt, ihn zu nutzen. China kann seine Wachstumsaussichten ankurbeln. Die Zentralbank hat die Zinssätze gesenkt, mehr Spielraum geschaffen, und wir werden wahrscheinlich fiskalische Anreize sehen. Wir sagen den chinesischen Behörden, dass sie damit den Konsum ankurbeln sollen und nicht, wie in der Vergangenheit, öffentliche Investitionen tätigen, da der Konsum in China sehr schwach ist. Wenn sich die Menschen nicht trauen, etwas zu kaufen, würde das die chinesische Wirtschaft stark belasten.

Die Verschuldungsraten in China sind hoch. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass die Pandemie einen grossen Einfluss auf die Verschuldungsraten weltweit hat. Kann China die Wirtschaft wirklich wieder ankurbeln?

Sie können es, weil sie diesen politischen Spielraum nicht so genutzt haben wie die Industrienationen. Sie mussten auch nicht.  Im Jahr 2020 hat ihre Nullz-Covid-Politik tatsächlich funktioniert. China hatte eine Wirtschaft, die sich schneller erholt hat als die Wirtschaft der übrigen Welt. Es ist eines der wenigen Länder, das 2020 nicht in eine Rezession geraten ist. 2022 begannen sie diesen Vorteil zu verlieren, und jetzt werden sie zu einem Hemmschuh für die globale Erholung. Aber sie haben den finanzpolitischen Spielraum, sie haben den politischen Spielraum. Die Frage ist nur, wie klug sie ihn nutzen und wie schnell sie ihn nutzen werden.

Das Gespräch führte Reto Lipp.

10vor10, 11.05.2022, 21:50 Uhr;

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