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Musik-Blog Computer haben kein Herz – und wir keinen Verstand

Wir werden ihn bald erleben. Den Tag, an welchem ein Computerprogramm selbstständig einen Welthit schreibt. Problematisch dabei sind aber nicht unbedingt Programme, die probieren sich an den Musiker heranzutasten. Problematisch ist, wenn der Musiker zum Rechner wird.

Selbstbezahlkassen in Supermärkten betrachte ich als keine grosse Errungenschaft unserer Gesellschaft. Ich benutze sie aber trotzdem. Selbstfahrende Autos finde ich heikel, weil ein Computerprogramm im Extremfall über Leben und Tod entscheidet.

Dennoch schliesse ich nicht aus, dass ich irgendwann in eine solche Kiste steigen werde. Worauf ich aber wirklich überhaupt keinen Bock habe, sind Songs, die nicht durch direkte menschliche Emotionen entstanden sind.

Entwicklung ≠ Fortschritt

Nur weil man etwas kann, heisst das noch lange nicht, dass es gut ist, wenn man es macht. Da das Zusammenspiel von Forschung, Entwicklung, Fortschritt und Ethik aber in den wenigsten Fällen harmonisch verläuft, brauche ich diesen Spruch an keine Wand zu sprayen. Schon die Spraydose, die ich dazu kaufen müsste... Ihr wisst schon.

Beim Thema Musik im Zusammenhang mit Entwicklung und Fortschritt kann ich aber nicht bloss mit den Schultern zucken. Da gibt es doch tatsächlich Bestrebungen, Programme zu entwickeln, die komplett autonom Songs schreiben. Das ist so absurd, wie wenn man einem Orka das Kühe melken beibringen würde. Kein Computer dieser Welt hat das Bedürfnis, Songs zu schreiben. Kein Rechner hat das Verlangen, sich auszudrücken.

Und trotzdem: Das eigentliche Problem ist nicht, dass sich Computerprogramme an die Kunst des menschlichen Songwritings herantasten. Das Problem ist, dass Menschen zu Rechnern werden. Etwa wenn wir anfangen, nach Schemen und nicht mehr aus Emotionen heraus Songs zu schreiben.

Schreiben für Spotify

Popsongs sind selten unschuldige Produkte. Seit jeher suchen Songschreiber Möglichkeiten und Songwriting-Rezepte, um ein möglichst grosses Publikum zu erreichen. Die Marktforschungsmöglichkeiten, welche der Musikindustrie durch Streaming-Portale wie Spotify geboten werden, lenken die Geschichte des Popsongs aber in eine verheerende Richtung.

Das Hörverhalten der Zielpublika ist inzwischen so klar auszumachen, dass Songschreiber zu Songkalkulatoren werden. Natürlich wussten schon die Beatles, dass der «perfekte Popsong» am besten direkt mit dem Refrain beginnt. Das hielt sie aber nicht davon ab, aus bestehenden Formaten auszubrechen.

Kommerziell ausgerichtete Pop-Produktionen aktuellen Datums riechen jedoch immer mehr nach geklonter und errechneter Musik.

Der Teufelskreis der vermeintlichen Songentwicklung

Es liegt in der Natur, dass der Mensch für Bekanntes am empfänglichsten ist. Um ein Kind in Essensthemen flexibel und interessiert zu halten, offerieren ihm seine Eltern eine möglichst breite Auswahl. Dies sollten Eltern von Popsongs ebenfalls tun. Ansonsten klingt die kommerzielle Popwelt irgendwann nur noch wie ein Teller Pasta mit Käse.

Jeder Popsong, der bloss das Ziel hat, für möglichst viele Menschen ein problemloser Ohrenschmaus zu sein, trägt ein bisschen zum Tod der Vielfalt seiner eigenen Art bei. Mehr noch: Er unterstützt die Entwicklung einer musikalisch desinteressierten Gesellschaft.

Zu hoffen bleibt allein, dass Herz, Seele und das Überraschungsmoment nicht wegzudenkende Elemente der Popmusik bleiben, beziehungsweise dass die Wichtigkeit dieser Elemente wieder zunimmt. Doch dazu braucht es unsere Leidenschaft. Es braucht unsere Zeit und Aufmerksamkeit für Songs, die uns beim ersten Mal hören herausfordern. Es braucht unsere Neugierde und unser Feinschmeckertum. Nur so hat das Schreiben von Popmusik mit kommerziellem Anspruch Chancen, eine aufregende, wertvolle und spannende Disziplin zu bleiben.

Autor: Gregi Sigrist

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Gregi Sigrist ist Musikjournalist der Fachredaktion Musik Pop/Rock von Schweizer Radio und Fernsehen. Im Musik-Blog schaut er auf, unter und hinter aktuelle Musikthemen und ihre Nebengeräusche.

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