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Trinkerkinder leiden ein Leben lang
Aus DOK vom 06.02.2020.
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Kinder von Alkoholikern Alkoholismus und sein langer Schatten

Sie sind die schwächsten Betroffenen der Volkskrankheit Alkoholismus. Mit alkoholkranken Eltern aufzuwachsen, führt bei Kindern oft zu lebenslangen, gravierenden Auswirkungen. Drei Betroffene erzählen.

Trinkerkinder wachsen unter widrigsten Umständen auf und kämpfen oft seit frühester Kindheit für eine prekäre Normalität innerhalb ihrer Familie. Sie kümmern sich um die abhängige Mutter oder versuchen, den süchtigen Vater vom Trinken abzuhalten.

Sucht Schweiz schätzt die Zahl hierzulande auf 100'000 Kinder und Jugendliche, die von der Alkoholabhängigkeit eines Elternteils betroffen sind.

Immer sitzt ihnen die Angst im Nacken, jemand könnte es merken und sie ins Heim stecken. Sie haben Schuldgefühle oder sie werden aggressiv, machen Probleme in der Schule oder werden selbst suchtkrank – auch das ein oft missverstandener Hilfeschrei in einem gesellschaftlichen Umfeld geprägt von Hilflosigkeit, Wegschauen und Schweigen.

Hilfe für Kinder und Jugendliche alkoholkranker Eltern

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  • Kinder und Jugendliche können sich unter www.mamatrinkt.ch oder www.papatrinkt.ch altersgerecht über die Erkrankung ihrer Eltern informieren und im Forum haben sie die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen.
  • Unter der Gratis-Telefonnummer 147 der Pro Juventute (Telefon und sms-Beratung) erreichen Kinder und Jugendliche rund um die Uhr jemanden, der zuhört und kompetente Hilfe leistet.

Magda-Lena kennt ihre Mutter nicht nüchtern

Die heute 16-jährige Magda-Lena konnte dem Elend daheim nicht ausweichen. Ihre Mutter trank auch während der Schwangerschaft, und so machte sie als Säugling bereits einen Alkohol-Entzug.

War die Mutter mit Kollegen unterwegs, wurde das Mädchen nächtelang alleine zurückgelassen. Ihre frühesten Erinnerungen an diese Zeiten voller Angst und Hilflosigkeit, Hunger und Einsamkeit reichen weit zurück. Sie erzählt von Erlebnissen, da war sie knapp 3 Jahre alt.

Sobald meine Mutter aufgestanden ist, hat sie eine Büchse Bier aufgemacht. Den ganzen Tag – sobald ihre Bierdose fertig war, kam die nächste.
Autor: Magda-Lena

Seit Magda-Lena denken kann, war ihre Mutter unzuverlässig und emotional instabil. Sie wusste nie, was sie zu Hause antraf, wenn sie von der Schule heim kam. In der Schule wurde sie gemobbt und gehänselt. Die meiste Zeit verbrachte sie alleine in ihrem Zimmer oder strich draussen herum.

In der Pubertät eskalierte die Situation. Magda-Lena begann sich zu ritzen und beging Suizidversuche. Heimplatzierungen und Aufenthalte bei der Mutter wechselten sich ab.

Schliesslich landete sie vor knapp 3 Jahren zuhinterst im Kandertal in einem pädagogisch betreuten Wohnheim. Später lebte sie in einer WG und begann eine Lehre als Automobilfachfrau. Dort fühlte sie sich vorerst aufgehoben, weil ihre Vergangenheit unter den Arbeitskollegen nur selten ein Thema ist.

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«Ich will nicht bemitleidet werden.»
Aus DOK vom 06.02.2020.
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Die Lehre musste Magda-Lena in der Zwischenzeit abbrechen. Es war für sie wohl alles ein wenig zu viel auf einmal. Vorerst ist sie nun zurück im Kandertal. Wohin ihr Weg geht, ist offen.

Monika spürt die Auswirkungen ihrer Kindheit bis heute

Verwahrlost und sich selbst überlassen, wuchsen Monika und ihre Geschwister als Kinder eines Säufers in einem halb zerfallenen Haus am Rande des Dorfes auf. Monika ist das drittälteste von acht Kindern: «Die Stimmung daheim war gedrückt, mein Vater kam jeden Abend betrunken nach Hause.» Dann war er gewalttätig, schlug und vergewaltigte die überforderte Mutter. So kam fast jedes Jahr ein Kind mehr dazu.

Ich habe mich geschämt, dass ich überhaupt auf der Welt bin.
Autor: Monika

Monika fühlte sich minderwertig, dumm und schuld an allem. Das wurde ihr die ganze Kindheit eingeredet: von den Eltern, den Lehrern und von vielen aus dem dörflichen Umfeld. «Ich habe mich geschämt, dass ich überhaupt auf der Welt bin.»

Nach der Schule zog sie von zu Hause aus und arbeitete in einer Fabrik. Sie wohnte in einem möblierten kleinen Zimmer, das verdiente Geld ging grösstenteils an die Eltern.

Sie bekam Anschluss in eine Clique Jugendlicher und begann selber hie und da zu trinken. Mit ein wenig Alkohol blühte die sonst zurückhaltende und scheue Monika auf, unterhielt manchmal die ganze Beiz. Fast nahtlos wechselte sie von einem alkoholkranken Vater zu einem alkoholkranken Ehemann. Aber das kümmerte sie damals nicht. Wie man mit Säufern umging, das kannte sie ja.

Erst in der Selbshilfegruppe habe ich gelernt, dass ich einen Wert habe.
Autor: Monika

Erst als ihr Mann betrunken ihre Kinder bedrohte, zog sie die Notbremse und verliess ihn. Seither kämpft sie sich mühsam zurück in einen normalen Alltag. In einer Selbsthilfegruppe lernte sie, dass sie keine Schuld trifft und dass auch sie ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat.

Heute sind ihre Töchter erwachsen und Monika ist stolze Grossmutter von zwei Enkelkindern. Sie ist dankbar, haben ihre Töchter keinen alkoholkranken Partner und können ihre Enkel frei aufwachsen. Der Kampf hat sich gelohnt.

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«Ich habe mich für meine Eltern geschämt»
Aus DOK vom 06.02.2020.
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Über das Unaussprechliche reden lernen

In alkoholkranken Familien richtet sich die Aufmerksamkeit auf den süchtigen Elternteil. Die kindlichen Bedürfnisse gehen vergessen. Die Not dieser Kinder steht bei der integrierten Suchthilfe in Winterthur im Vordergrund.

In seiner langjährigen Praxis hat Kinderpsychologe Georg Kling schon viel Leid von Kindern miterlebt. Wie lernen die Kinder und Jugendlichen über etwas sprechen, das sie seit frühester Kindheit verheimlichen müssen? Kinder lieben ihre Eltern, egal, was diese ihnen antun.

Zu uns kommen Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten.
Autor: Georg Kling Kinderpsychologe «Zebra»

Georg Kling: «Oft geht das Sprechen nicht, wir malen oder spielen und finden so Zugang zu den Kindern.» Das Therapieangebot «Zebra» geht auf die Kinder und ihre Bedürfnisse ein. «Dabei betreuen wir Kinder aus allen sozialen Schichten.»

Wir begleiten Georg Kling, wie er die 12-jährige Zoé therapeutisch unterstützt. Zoé hat bereits ihren Vater durch den Alkohol verloren. Nun hat sie Angst um ihre Mutter und kontrolliert diese rund um die Uhr.

Georg Kling im Interview

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Ursula Brunner: Wie soll man reagieren beim Verdacht, dass Eltern eines mir bekannten Kindes, trinken?

Georg Kling: Wir möchten eigentlich die Leute im Umfeld ermutigen zu handeln. Doch Alkoholmissbrauch ist ein Tabuthema. Man muss sich deshalb gut überlegen, was man genau sagt und wie man die Betroffenen anspricht. Es ist eventuell besser, nicht direkt den Konsum zu thematisieren. Eher im Sinne von: «Ich habe das Gefühl, es geht dir nicht so gut, kann ich helfen»?

Sie würden den Alkoholmissbrauch also nicht direkt zum Thema machen?

Natürlich kann man es auch direkt ansprechen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass das Trinken oft geleugnet oder bagatellisiert wird. Wenn es aber wirklich gefährlich wird, wenn man merkt, dass Gewalt im Spiel ist – das passiert ja oft bei Suchterkrankungen, auch bei Alkohol – dort haben wir, wie ich finde, die Pflicht zu handeln. Das kann eine Meldung bei der Polizei oder bei der KESB sein.

Direkt mit den Kindern reden würden Sie nicht?

Ich würde nicht auf ein Kind zugehen, um ihm quasi ein «Geständnis» abzuringen. Wenn aber ein Kind erzählt, dass es daheim schwierig sei, dann würde ich genau hinhören und es ernst nehmen.Und dann die Eltern ansprechen. Ihnen sagen, dass Sie den Eindruck haben, dem Kind gehe es nicht gut. Sie darauf aufmerksam machen, dass man eine Meldepflicht hat.

Und wie könnte man den Kindern direkt helfen?

Wenn beispielsweise eine Lehrperson merkt, dass es dem Kind schlecht geht, ist ein Redeangebot sicher richtig – wenn das Kind das will. Aber wenn es darum geht, etwas zu verändern, dann würde ich nicht mit dem Kind reden, sondern mit den Eltern.

Soll man als Nachbar dem Kind nicht sagen: «Ich habe gehört, gestern war es laut. Du kannst das nächste Mal zu uns kommen»?

Das ist sehr heikel. Je nachdem wird das Kind danach daheim noch mehr unter Druck gesetzt. Es besteht die Gefahr, dass das Kind instrumentalisiert wird. Ich würde eher die Eltern fragen, ob das Kind zu mir kommen kann, wenn es ihnen schlecht geht. Bezieht man die Eltern nicht mit ein, fühlen sie sich hintergangen, und das führt im Endeffekt wieder zu einer Stigmatisierung und Ausgrenzung.

Bis ihr Vater starb, wusste sie nicht, dass Alkohol so schlimm sein kann. Sie dachte, das sei einfach ein Getränk für Erwachsene. Sie hätte gerne gewusst, um was es ging und dass ihr Vater krank war. Aus falschem Schutz haben die Erwachsenen nicht mit ihr darüber geredet.

Das holt Georg Kling nun nach. Altersgerecht versucht er Zoé aufzuklären und ihr klarzumachen, dass sie ihrer Mutter nicht helfen kann, auch wenn sie sich noch so anstrengt. Er bespricht Strategien mit ihr, wie sie damit umgehen kann und wie sie gut zu sich schauen kann und darf.

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Zoé in der Therapiestunde beim Kinderpsychologen Georg Kling
Aus DOK vom 06.02.2020.
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Der Dokfilm zum Thema:

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Trinkerkinder – Der lange Schatten alkoholkranker Eltern
Aus DOK vom 06.02.2020.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 50 Minuten 1 Sekunde.

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