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«Ihr seid nicht im Hotel Neftenbach in den Ferien»
Aus DOK vom 08.09.2016.
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SRF DOK Asyl-DOK: Filmen in einem politischen Minenfeld

«Was, ein Dokfilm über Flüchtlinge? Ich kann kein Schlauchboot mehr sehen!» So kommentiert ein Kollege, der für die News arbeitet. Auch kantonale Behörden, Sprachschulen und Asylanwälte würden lieber nichts mit der Dokumentation des Flüchtlingsalltags zu tun haben, wenn auch aus anderen Gründen.

Zur Autorin

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Karin Bauer arbeitet seit 1994 bei SRF. In ihren Reportagen und Dokumentarfilmen geht sie politischen und gesellschaftlichen Fragen auf den Grund.

Die Flüchtlingsschicksale berühren mich, aber sie waren nicht mein Antrieb, diesen Film zu machen. Ebenso wenig die «Asylchaos»-Kampfparolen der SVP. Es war vielmehr die Realpolitik, so langweilig dieser Begriff auch klingt. Ich wollte wissen, wie die Gemeinden mit den neuen Bewohnern zurechtkommen. «Integration» – das Zauberwort unserer Zeit. Aber was heisst das ganz konkret: Was für Programme gibt es? Was kosten und was bringen sie?

Ein Film über eine Gemeinde also, stellvertretend für alle Schweizer Gemeinden. Für die Dramaturgie brauche ich: Den Vorsteher eines Sozialamts, der im direkten Kontakt zu den Flüchtlingen steht und so den Zugang zu den für uns Fremden, die meist weder Deutsch noch Englisch sprechen, ermöglichen kann. Bereits hier beginnen meine Probleme. Viele Gemeinden haben die Betreuung ihrer Flüchtlinge ausgelagert, etwa an die Firma ORS oder an die Asylorganisation Zürich. Andere behandeln die Flüchtlinge nicht anders als alle Sozialhilfeempfänger; sie sehen sie einmal pro Monat auf dem Amt.

Der Asylchef von Neftenbach: Urs Wuffli betreut die Flüchtlinge fast rund um die Uhr
Legende: Der Asylchef von Neftenbach: Urs Wuffli betreut die Flüchtlinge fast rund um die Uhr SRF

Integrationsarbeit passiert nicht am Schreibtisch

Ich habe auch solche Gemeinden gebeten, Asylbewerber und Flüchtlinge für Filmaufnahmen anzufragen. Alle sagten ab. Was mich nicht verwundert: Je geringer der Kontakt zu den Flüchtlingen, desto grösser die beidseitige Skepsis. Dann traf ich Urs Wuffli, Sozialchef von Neftenbach im Kanton Zürich. Zwar arbeitet auch seine Gemeinde mit der Asylorganisation zusammen, aber ihm sei schnell klar geworden, dass sich Integrationsarbeit nicht vom Schreibtisch aus erledigen lasse, sagt der vor zwei Jahren ins Amt gewählte FDP-Gemeinderat. Und so nahm er mich mit, klingelte an den Wohnungstüren der Syrer, Eritreer und Afghanen seiner Gemeinde und stellte mich beim Kaffee vor. Und siehe da: Alle Angefragten sagten fürs Filmprojekt zu!

«DOK» am Donnerstag

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«zum Beispiel Neftenbach», Donnerstag, 8. September 2016, 20.05 Uhr, SRF 1

Das Asylwesen kennt viele Akteure, es hat fördernde, fordernde und repressive Seiten. Klar, dass ich alles zeigen wollte: Die Deutschkurse für Analphabeten, die Polizeikontrollen im Asylbewerberheim, die Asylanwälte, die Rekurse schreiben, die Zivilstandsbeamten, die Flüchtlinge ohne Papiere registrieren müssen.

Aber ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als ein grosser Sprachkursanbieter die Filmanfrage ablehnte. Man müsse jeden Teilnehmer in seiner Sprache anfragen, das sei zu aufwändig. Der Hinweis, dass Steuergelder die Kurse finanzieren, beeindruckte nicht. Mehrere Gespräche mit Leitungspersonen waren nötig, um klarzumachen, dass die Teilnahme in einem Film über Integration wichtig ist.

Polizeikontrollen in Asylunterkünften dürfen nicht gefilmt werden, hiess es bei der Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich. Meine Argumente, dass wir vor Jahren noch Drogenrazzien in Asylbewerberheimen gedreht hatten, interessierten nicht. Auch bei Asylanwälten und Zivilstandsbehörden brauchte es Überzeugungsarbeit und das Versprechen, dass sie ihre Aussagen vor der Ausstrahlung einsehen können, bis wir filmen konnten.

Willkommen in Neftenbach: Lassen sich die Flüchtlinge aber wirklich integrieren?
Legende: Willkommen in Neftenbach: Lassen sich die Flüchtlinge aber wirklich integrieren? SRF

Verpolitisiertes Thema

Umstritten war das Thema Asyl schon immer. Als ich vor 15 Jahren begann, Beiträge für die «Rundschau» zu realisieren, gab es noch viele Tabus. Ich erinnere mich an die Aussage einer Sozialarbeiterin in einem Asylbewerberheim anno 2003: «Natürlich handeln einige unserer Asylbewerber mit Drogen, aber das sagen wir nicht öffentlich». Als ich den damaligen Chef des Bundesamts für Migration fragte, ob er bestätigen könne, dass es unter den nigerianischen Asylbewerbern Kokaindealer gibt, brach er das Interview ab und nannte mich eine «Rassistin». Sieben Jahre später machte einer seiner Nachfolger Schlagzeilen mit der Aussage, fast alle nigerianischen Asylbewerber kämen nicht als Flüchtlinge in die Schweiz, sondern um «illegale Geschäfte» zu machen.

Es ist das Verdienst der SVP, Missbräuche im Asylwesen enttabuisiert zu haben. Aber das Pendel hat längst umgeschlagen. Der bald 20 Jahre dauernde Fokus auf den Missbrauch hat das Thema vollends verpolitisiert. Wer heute nicht ein Hardliner ist, wird als sogenannter Gutmensch belächelt. Die Gesellschaft ist gespalten; egal, was man sagt, feindliche bis hasserfüllte Kommentare sind einem gewiss. Im Zeitalter von Social Media sowieso. Entsprechend zurückhaltend sind darum wohl auch die Behörden.

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«Wir haben die Tendenz, die Faulen zu belohnen»
Aus DOK vom 08.09.2016.
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Vorsichtig positive Bilanz

Im Film beobachten wir drei Flüchtlingsschicksale. Ihre Probleme sind mannigfaltig: sprachlich, kulturell, psychisch. Während der sechs Monate dauernden Drehzeit erleben wir Fortschritte und Rückschläge. Die Bilanz sieht vorsichtig positiv aus. Aber obwohl sich Sozialvorstand Urs Wuffli und sein ehrenamtliches Helferteam ins Zeug legen, sind auch in Neftenbach über 90 Prozent der Flüchtlinge von der Sozialhilfe abhängig. «Noch», sagt Urs Wuffli. Er hofft, dass in ein paar Jahren mindestens die Hälfte einen Job hat dank der Investition in Deutschkurse und Arbeitsprogramme. Aber auch dank der persönlichen Beziehung, die einige Dorfbewohner zu den Flüchtlingen aufgebaut haben.

Grenzen zu schliessen, ist keine Option

Der Film «zum Beispiel Neftenbach» zeigt: Es gibt keine ideale Asylpolitik. Was es gibt, ist Verbesserungspotential. Die Asylverfahren, die im Schnitt immer noch neun Monate dauern, müssen schneller werden. Deutschkurse sollten schon für Asylbewerber obligatorisch sein, das Arbeitsbewilligungsverfahren für Flüchtlinge muss vereinfacht werden. Aber selbst dann bleibt es schwierig, Analphabeten fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Viele Gemeinden werden den Steuerfuss erhöhen müssen, wenn die Sozialhilfekosten der Flüchtlinge in einigen Jahren vom Bund an sie übergehen. Grenzen zu? Keine Option, solange die Schweiz als Rechtsstaat ernst genommen werden will.

Persönlich denke ich ähnlich wie Urs Wuffli: Es gibt keine Alternative als der Versuch, die neuen Nachbarn so schnell wie möglich zu integrieren. Auch wenn das kostet. Nichtstun kommt die Steuerzahler langfristig viel teurer zu stehen. Und diese Haltung ist weder ideologisch links noch rechts – sie ist ein Fakt.

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