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NETZ NATUR Das Gletschertrauma

In den letzten eineinhalb Jahrzehnten hat der Rhonegletscher 3 Millionen Kubikmeter Eis verloren. Dramatischer kann ein Gletscher die Klimaerwärmung nicht zeigen. Ein Schockerlebnis.

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Legende: Der Rhonegletscher 2001 und 17 Jahre später 2018

Es war ein Schock vor ein paar Tagen: Ich war im Oktober 2001 das letzte Mal am Rhonegletscher, für Dreharbeiten zu unserer ersten Sendung «NETZ NATUR» über die Klimaerwärmung. Fast auf den Tag genau 17 Jahre später, im Oktober 2018, stehe ich mit dem Team wieder vor dem Gletscher, um zu filmen und bin schockiert: Etwas weiter unter uns, werfen sich gleich zwei tosende Arme von Schmelzwasserbächen über rundgeschliffenen Fels ins Tal – tausend Liter Wasser pro Sekunde. Wo damals das Eis war, ist heute graugrünes Wasser – ein weiter See.

Über 300 Meter sind es, bis talaufwärts schmutziges Eis aus ihm emporwächst und sein Ufer bildet. Nachträglich geschätzt nach Luftaufnahmen hat der Gletscher in den letzten 17 Jahren ein Eisvolumen verloren, das rund fünfmal dem Volumen des Zürcher Hallenstadions entspricht: 3 Millionen Kubikmeter Eis. An diesem strahlenden Oktobertag wird auf einen Schlag die Klimaerwärmung traumatisch sichtbar.

Was Wärme ändert

Was den Gletscher schmelzen lässt, hat Auswirkungen auf die Natur. Einheimische Tier- und Pflanzenarten fühlen sich durch tropische Sommertemperaturen nicht mehr wohl und geraten unter Druck.

Gletscherflöhe verlieren ihre Welt, das Eis. Murmeltiere ziehen sich zurück, immer weiter in die Höhe. Die Gämsen werden krank. Neue Arten, die Sommerhitze, Trockenheit und milde Winter lieben, drängen ins Land. Die Tigermücke, die aus Asien stammt, und die Furcht weckt vor den Viren, die sie übertragen kann. Zecken haben tolle Zeiten. Und fremde Pflanzenarten wuchern überall.

Der weltweite Handel beschert uns Wohlstand. Der globale Tourismus ist Ausdruck davon. So verfrachten wir fremde Arten über Kontinente. Manche landen im Paradies bei uns. Gab es in der Natur zuhause Feinde und Gegenspieler: In der neuen Heimat hier bei uns ist nichts davon zu spüren. So gedeihen sie weitgehend ungehindert und verdrängen einheimische Arten.

Das Gletschertrauma

Zwar war das schon immer so: Als sich nach der letzten Eiszeit vor 12‘000 Jahren das Eis zurückzog, war jede Pflanze, jedes Tier, das einwanderte und das eisfreie Gebiet besiedelte eine neue, fremde Art. Seit je hat sich das Leben auf der Erde ständig gewandelt, die Gemeinschaften von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen sind einem permanenten Wechsel unterworfen. Wer sich nicht verändert, der stirbt aus.

So entstanden im Prozess der Evolution aus mikroskopischen Urlebewesen, aus Bakterien, schliesslich Dinosaurier und Wale – über Jahrmilliarden und Millionen. Und Tiere und Pflanzen entwickeln sich ständig weiter. Leben heisst Bewegung und Veränderung. Doch solche Anpassungsprozesse brauchen Jahrzehnte, Jahrhunderte, mitunter eben Jahrmillionen.

Schnelle Wechsel führten zu Katastrophen: Ein grosser Meteoriteneinschlag oder der Ausbruch eines Supervulkans verdunkelten die Sonne durch Staub und Asche-Eruptionen. So starben die Dinosaurier aus. Wir sind zurzeit dabei, die Welt durch unser Tun, durch die Klimaerwärmung dramatisch schnell zu verändern. Das sagt der traumatisierte Rhonegletscher. Ob das wohl in unserem Sinn gut herauskommt?

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