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Die Schweiz nach 1945 Die umstrittene Rolle des Sozialdemokraten Robert Grimm

Nach 1945 engagierte die Hovag, die heutige Ems-Chemie, zahlreiche, deutsche Chemiker mit Nazi-Vergangenheit. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Robert Grimm. Seine Geschichte und die Replik auf die Robert-Grimm-Gesellschaft.

Robert Grimm ist in der Geschichte der Schweizer Sozialdemokratie wohl der prominenteste Politiker: Er war es, der nach dem Ersten Weltkrieg den landesweiten Generalstreik organisierte. Zuvor half er dem Kommunisten Lenin, in der Schweiz Asyl zu finden. Und er organisierte während des Ersten Weltkriegs die international beachteten Friedenskonferenzen in Zimmerwald und in Kiental. Deshalb ist sein Name auch international ein Begriff.

SP-Nationalrat Robert Grimm (links) zusammen mit dem Zürcher Rechtsanwalt Ernst Imfeld.
Legende: SP-Nationalrat Robert Grimm (links) zusammen mit dem Zürcher Rechtsanwalt Ernst Imfeld. Sie waren verantwortlich für die Finanzierung der Hovag und die Vermittlung des deutschen Chemikers Johann Giesen an Werner Oswald. Schweizerisches Bundesarchiv

Grimm war zuständig für die Treibstoff-Versorgung

Wegen seiner Rolle im Ersten Weltkrieg kritisierte Christoph Blocher in seiner Neujahrsrede 2018 Robert Grimm noch öffentlich: «Ein fähiger Mann, der für das Falsche kämpfte», sagte Blocher damals. Seine Rolle bezüglich Ems-Chemie erwähnte Blocher nicht. Jetzt stellt sich heraus: Ohne Grimm würde die Ems-Chemie wohl gar nicht existieren.

Das kam so: Der Bundesrat rief den prominenten Sozialdemokraten während des Zweiten Weltkriegs auf einen Spitzenposten. Er ernannte ihn zum Verantwortlichen für die Treibstoff-Versorgung. Die Schweiz war eingeschlossen vom Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien – die Benzin-Versorgung stockte.

Grimm, ein Antifaschist der ersten Stunde, der schon früh seine Partei überzeugte hatte, die Armee zu unterstützen, suchte nach Treibstoff-Ersatz. Und fand ihn bei Werner Oswald. Er beantragte dem Bundesrat, in Domat-Ems die sogenannte Holzverzuckerung von Oswald, damals noch im Versuchsstadium, zu finanzieren.

Bau der Hovag mit Bundesgeldern

Ab 1941 konnte Werner Oswald mit Bundesgeldern das Werk bauen, die Hovag, die Vorgängerfirma der Ems-Chemie, nahm ihren Betrieb auf. Christoph Blocher dazu: «Herr Grimm, der als Marxist im ersten Weltkrieg eine Revolution wollte in der Schweiz nach russischem Muster, der an der Spitze stand beim Generalstreik, hat sich dann dort, entweder durch Überzeugung oder Opportunismus, als Spitzenbundesbeamter wählen lassen.»

Und: «Er war ganz der Meinung von Werner Oswald, dass die Schweiz so eine Betriebsstoff-Produktion machen sollte, aus Holz Benzinersatz herstellen. Grimm hat beim Bundesrat beantragt, dass man in Ems eine solche Produktionsanlage baut. Der Bund zahlte die Investition.»

Auch nach Kriegsende hilft Grimm der Hovag

Nach Kriegsende wurde der Benzinersatz nicht mehr benötigt, Oswald musste Alternativen suchen. Wiederum kam ihm Robert Grimm zu Hilfe. Der Sozialdemokrat hatte zusammen mit seiner rechten Hand, dem Zürcher Rechtsanwalt Ernst Imfeld, Kontakte zu höchsten Kreisen des Dritten Reichs geknüpft – mit dem Ziel, trotz Einkesselung der Schweiz, Benzin aus Osteuropa zu importieren.

Grimm schützte SS-Mitglieder vor den Alliierten

Kurz vor dem Krieg flüchteten die beiden SS-Mitglieder, mit denen Grimm damals verhandelte, in die sichere Schweiz. Der sozialdemokratische Nationalrat Grimm hielt seine schützende Hand über sie, als die Alliierten sie suchten. Offenbar im Gegenzug vermittelten sie der Hovag via Grimm einen Mann, der eine Lösung hatte: Johann Giesen.

Rebekka Wyler, Co-Generalsekretärin der SP
Legende: Rebekka Wyler, Co-Generalsekretärin der SP, gibt Auskunft über die umstrittene Rolle des SP-Nationalrats Robert Grimm. SRF

Was sagt die sozialdemokratische Partei dazu, dass eines ihrer Aushängeschilder Nazi-Chemiker vermittelte? Rebekka Wyler, Co-Generalsekretärin: «Es gibt Forschung, die zeigt, dass Grimm selber blinde Flecken hatte. Das wirft natürlich dann auch einen Schatten auf die Partei. Das ist mir klar. Die Frage ist, sind wir heute dafür verantwortlich, was wir früher gemacht haben? Oder können wir dazu beitragen, dass man das aufarbeitet.»

Replik zur Kontroverse um die Rolle von Robert Grimm

Der Historiker Adrian Zimmermann, Vorstandsmitglied der Robert-Grimm-

Gesellschaft, kritisiert eine Kern-Aussage des SRF DOK-Films «Ems-Chemie – Dunkle Helfer nach dem Zweiten Weltkrieg». Er schreibt, es sei «wenig überzeugend», dass Robert Grimm und seine rechte Hand, der Zürcher Rechtsanwalt Ernst Imfeld, den Auschwitz-Monowitz-Direktor Johann Giesen an die Hovag/Ems-Chemie vermittelt hätten. Er vertritt den Standpunkt, es handle sich hier um eine «Fehlinterpretation einer Quelle».

Seine Aussage ist aus unserer Sicht falsch. In dem im Bundesarchiv archivierten Protokoll vom 29. April 1952 der Hovag-Überwachungskommission, die der Sozialdemokrat Robert Grimm präsidierte, heisst es wörtlich (Rechtschreibung original):

Der Vorschlag, Herrn Gisen anzuhören, ist sehr zu begrüssen. Es ist daran zu erinnern, dass er in den Jahren 1945/46 von uns zur Hovag gebracht wurde. 1949 schob ihn dann Oswald beiseite, da er sich gegen die unsinnigen Investitionen aussprach. Nachdem nunmehr die Forschungen Dr. Zorns lediglich zu grossen Verlusten führten und Dr. Zorn entlassen wurde, holte Oswald Gisen wieder hervor, der nun genau dort wieder anfangen muss, wo er 1949 aufhörte.

Mit anderen Worten: Die von Grimm präsidierte Überwachungskommission nimmt für sich in Anspruch, Giesen vermittelt zu haben. Die Darstellung im Film ist somit korrekt.

Unmittelbar nach dieser Sitzung erfolgte eine weitere (telegrafische) Einladung Giesens, die im Film visualisiert wurde. Laut dem Protokoll vom 1. Juli 1952 gab es bereits 1946/47 eine Anhörung Giesens durch die Grimm-Kommission. Das entsprechende Protokoll von 1946/47 hat SRF DOK allerdings nicht gefunden. Die Protokolle der staatlichen Hovag-Überwachungskommission haben amtlichen Charakter. Weiter schreibt Adrian Zimmermann, die Schlussfolgerung, Robert Grimm hätte um die dunkle Vergangenheit Giesens wissen müssen, scheine «doch sehr gewagt» und spricht von «dünner Faktenlage».

Seine Aussage erstaunt. Denn das Schreiben, dass SRF DOK im Film als Beleg zitiert, hat speziellen Charakter: Im Unterschied zu der allgemeinen Korrespondenz Imfeld-Grimm ist dieser Brief vom 6. Mai 1952 nämlich ausnahmsweise an Grimms Privatadresse gerichtet. Es trägt die Überschrift «Vertraulich» und beginnt mit den Worten: «Mein Lieber» (die meisten anderen Schreiben von Imfeld waren an Grimms Büroadresse und hatten formelle Anreden wie «Herr Nationalrat»).

Aus dem Schreiben geht hervor, dass Imfeld die berufliche Biographie Johann Giesens in Deutschland sehr wohl recherchierte. Der Brief ist ein starkes Indiz, dass Imfeld dabei auf Giesens Tätigkeit als Direktor des Methanolwerks Auschwitz-Monowitz gestossen ist, denn Imfeld schreibt in seinem vertraulichen Brief an Grimm, dass «Giesen selbstverständlich eine Kapazität sei mit Bezug auf Industrie-Organisator, in seinen Gebieten, also Metanol.»

Nur nebenbei sei erwähnt, dass das andere IG-Farben-Methanolwerk in Leuna, auch unter Giesens Leitung, ebenfalls Zwangsarbeiter einsetzte. SRF DOK analysierte weiter ausführlich die persönlichen Handakten von Robert Grimm. Daraus geht hervor, dass Robert Grimm spätestens im November 1949 den schriftlichen Beleg erhielt, dass Johann Giesen als Direktor bei IG Farben tätig war.

Dies ein Jahr nachdem IG-Farben-Kadermitglieder in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen rund um den Industriekomplex Auschwitz-Monowitz verurteilt worden waren. Über das IG Farben-Urteil berichtete auch die Schweizer Presse. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war für politisch

aufmerksame Zeitgenossen erkennbar, welche problematische Rolle IG Farben-Direktoren in Nazi-Deutschland damals spielten. Es ist sicher nicht vermessen, den damaligen Nationalrat Robert Grimm zu den «politisch aufmerksamen Zeitgenossen» zu zählen.

Wir möchten auch darauf hinweisen, dass Adrian Zimmermann im privaten Grimm-Nachlass ein Telegramm von zwei hochbelasteten Nazis gefunden hat: Das ehemalige SS-Mitglied Friedrich Kadgien, die rechte Hand Görings, und Ludwig Haupt gratulierten Robert Grimm 1951 zum Geburtstag – das Telegramm findet sich in Grimms persönlichen Akten unter anderen Geburtsgratulationen von Partei- und Gewerkschaftsgenossen. Wäre Grimm diese Gratulation peinlich gewesen, hätte er sie wohl kaum aufbewahrt.

Und schliesslich sei noch folgende historische Begebenheit erwähnt: Als der ehemalige SS-Hauptsturmführer Ernst Rudolf Fischer am 5. März 1953 in der Schweiz seine Aufenthaltsbewilligung verlängern wollte, gab er als Referenz Robert Grimm an.

Mit anderen Worten: Es gibt mehrere Belege, die darauf hinweisen, dass Robert Grimm im und nach dem Zweiten Weltkrieg Kontakte zu mehreren einflussreichen ehemaligen deutschen Nazis pflegte. Auch dann, als er hätte wissen müssen, dass insbesondere Johann Giesen im dritten Reich eine dunkle Rolle spielten. Wir begrüssen es, wenn die Robert-Grimm-Gesellschaft bestrebt ist, sich offen mit der Vergangenheit von Robert Grimm auseinanderzusetzen und aufgrund der heute bekannten Quellen und Fakten eine kritische Betrachtung der Person vorantreibt.

(20.11.2020)

1945 – Kriegsende in Europa

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Legende: SRF

Vor 75 Jahren im Jahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Und auch die kriegsverschonte Schweiz wurde von diesem historischen Moment beeinflusst. Die frühe Nachkriegszeit ist jedoch eine spannungsvolle Leerstelle im historischen Gedächtnis des Landes.

Mit dem Schwerpunkt «1945» will SRF Fragen beantworten, Diskussionen anregen und das Verständnis für die damaligen Ereignisse fördern.

Alle bisherigen Beiträge zu «1945» und zum Kriegsende allgemein gibt es hier.

«1945 – Zurück auf Start»

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Deutsche Chemiker mit Nazi-Vergangenheit helfen beim Aufbau der heutigen Ems-Chemie. War dies zulässig oder verwerflich? Wie beurteilen wir heute die Entscheide von damals? Und wie viel wissen wir über dieses verborgene Kapitel Schweizer Geschichte? Acht junge Medienschaffende aus allen Landesteilen der Schweiz stellen sich diesen Fragen, und es entstehen Debatten, die zum Nachdenken anregen.

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