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Wir Schweizerinnen in New York
Aus Reporter vom 05.04.2015.
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SRF DOK Leben in New York: Ein Selbstversuch

New York, Brennpunkt unserer Sehnsüchte! Hier, wo jeder auf die grosse Liebe oder den tollen Job hinter der nächsten Strassenecke hofft – und auf einen Obdachlosen trifft. Die ehemalige US-Korrespondentin Karin Bauer über drei Schweizerinnen in Manhattan und die amerikanische Lebensart.

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Während drei Jahren war Karin Bauer Korrespondentin in New York. Die Reporterin arbeitet seit 1994 bei SRF. In ihren Reportagen und Dokumentarfilmen geht sie politischen und gesellschaftlichen Fragen auf den Grund.

Ich gebe zu: Ich hege eine Hassliebe zu New York. Wie viele andere hatte ich mir als Jugendliche gewünscht, die enge Heimat gegen die aufregende Metropole zu vertauschen. Und New York hat viel von einem Teenager: Lebhaft, kreativ, launisch, unzuverlässig. Die erste Erfahrung, nachdem ich den Mietvertrag für mindestens zwei Jahre abschliessen musste: Ich kriege keinen TV-Anschluss. Aber warum? Mein Vormieter hat seine Rechnungen nicht bezahlt. Wie bitte? Welcome to New York.

Gabriela, Clarina und Rosa: Jede der drei Schweizer Migrantinnen kann Geschichten erzählen über die Ineffizienz der angeblichen Leistungsgesellschaft. Als erstes mussten wir Kinder der auf Disziplin und Perfektion getrimmten Schweiz lernen, dass Wallstreet und Top-Universitäten nur einen kleinen Teil der Weltstadt ausmachen.

Alle sagen, New York sei nicht die USA. Für mich aber ist New York durch und durch amerikanisch, widerspiegelt die Stadt doch alle Probleme des Landes: Das schlechte Schulwesen etwa, die Hire-and-Fire-Mentalität am Arbeitsplatz. Der Asphalt vom Broadway mag die Tellerwäscherkarriere vorgaukeln. Doch nirgendwo in den USA ist der Graben zwischen superreich und mausarm grösser als in New York, und die Statistik zeigt: Der amerikanische Traum ist viel eher in Schweden zu schaffen.

Gabriela Napoletano träumt vom eigenen Restaurant in New York

Aber was sind Zahlen im Vergleich zur Leidenschaft? Die 30-jährige Bernerin Gabriela Napoletano ist überzeugt, dereinst ein eigenes Restaurant in New York zu besitzen. Ihren Job als Geschäftsführerin einer Spaghetti Factory hat sie geschmissen, um ein neues Trendrestaurant in Brooklyn zu managen. Von Visa-Problemen und teuren WG-Zimmern lässt sie sich nicht abschrecken. Und erdulden muss sie auch, dass sich die Eröffnung des neuen Restaurants um Monate verzögert.

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Tellerwäscherkarriere: Gabriela Napoletano und ihr Traum vom Restaurant
Aus DOK vom 02.04.2015.
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Die Künstlerin Clarina Bezzola machte in New York einen Neuanfang

New York ist auch ein Zufluchtsort für Menschen, die sich erst heimisch fühlen, wo alle fremd sind. Die 44-jährige Künstlerin Clarina Bezzola etwa: Nach einer schwierigen Jugend reiste sie am Tag nach der Matur nach New York – und kehrte nicht mehr zurück. Sie beschreibt die Schweiz als Land, in dem man dazu erzogen werde, die Nachbarn nicht zu stören. Kein Wunder hätte sie früher Angst gehabt, anderen auf den Füssen zu stehen, zu viel Platz einzunehmen.

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Die Künstlerin Clarina Bezzola mit einer Performance an der Grand Central Station
Aus DOK vom 02.04.2015.
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Rentnerin Rosa Schupbach arbeitet als ehrenamtliche Hilfspolizistin

Am meisten beeindruckt hat mich die 86-jährige Rosa Schupbach: Die resolute Zürcherin bewacht die Strassen von Manhattan, ausgerüstet mit Schlagstock und kugelsicherer Weste. Sie ist ehrenamtliche Hilfspolizistin bei der New Yorker Polizei und sagt: In der Schweiz wäre das undenkbar, als Rentnerin würde man sie auslachen.

Das schrecklich-schöne Metropolis verändert uns Frauen aus dem engen Land also zwangsläufig: Wie Gabriela, Clarina und Rosa lebte auch ich drei Jahre lang mit dem Gefühl, einen Meter über Boden zu schweben, unbeobachtet und somit lockerer und selbstsicherer als in der sozial kontrollierten Heimat.

Amerikanisiert bin ich deswegen nicht, der unkritische Daueroptimismus ärgert mich nach wie vor. Aber auch wenn ich mir von den Amerikanern mehr Realitätssinn wünsche, wünsche ich vor allem uns Schweizerinnen und Schweizern mehr Mut und Zuversicht. Denn: Wer glaubt, perfekt sein zu müssen, lebt in Dauerangst. Die Stadt der Träume aber lehrt uns, dass Scheitern zum Leben gehört. Scheitern nach US-Lesart: Kein Untergang sondern der Anfang eines Neubeginns.

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