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Christian Bürger, DDR-Flüchtling
Aus DOK vom 24.09.2014.
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SRF DOK Massenflucht nach Prag: «Freiheit, Freiheit!»

Am 30. September 1989, kurz vor sieben Uhr abends. Im Garten der Deutschen Botschaft in Prag drängen sich fast 4'000 Menschen. DDR-Bürger, die nur einen Wunsch haben: Sie wollen in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen – in die Freiheit.

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Jens Hase, DDR-Flüchtling
Aus DOK vom 24.09.2014.
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Sie haben alles auf eine Karte gesetzt, haben Angehörige, Eigenheime, Karrieren, ihr ganzes bisheriges Leben zurückgelassen. Ihre Hoffnung ruht auf dem deutschen Aussenminister. Hans Dietrich Genscher setzt zu seiner berühmten Rede an: «Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuzeilen, dass heute Ihre Ausreise....» Einer der berühmtesten Halbsätze der deutschen Geschichte, zugleich der Moment, an dem die über Tage aufgebaute Anspannung der Zuhörer in kollektive Begeisterung übergeht.

Genscher versucht die Massen zu beruhigen

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Frank Elbe, Diplomat
Aus DOK vom 24.09.2014.
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«DOK» am Mittwoch

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«Zug in die Freiheit»: Mittwoch, 24. September, 2014, Teil 1: 22.55 Uhr, Teil 2: 0.05 Uhr, SRF 1

Genscher sagt, dass noch am gleichen Abend die ersten Züge fahren sollen. Wieder Jubel. Doch was dann bekannt wird, sorgt für Entsetzen: Die Züge sollen einen Umweg fahren. Sie müssen durch die DDR. Plötzlich ist es totenstill in der Botschaft. Und auf einmal sind die Ängste der Menschen wieder da. Ist die Ausreise doch nur eine Finte der DDR? Müssen sie am Ende wieder zurück in das Land, aus dem sie gerade geflohen sind? Jeder hier weiss, dass «versuchte Republikflucht» in der DDR ein schwerer Straftatbestand ist. «Nein. Niemals!» ruft ein Flüchtling trotzig. «Ich kann sie gut verstehen, entgegnet Genscher, aber ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass ihnen nichts geschehen wird.»

Honecker selbst hatte der Bundesregierung das Zugeständnis abgetrotzt, dass die Züge in die Freihheit einen Umweg nehmen müssen – über das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Eine der letzten grossen Machtdemonstration der Ostberliner Führungsriege, zugleich eine fatale politische Fehlentscheidung. Honecker will ein «Fanal der Souveränität der DDR» setzen. Die Waggons stellt die Deutsche Reichsbahn, und die Reise durch die Heimat soll den Flüchtlingen verdeutlichen, was sie aufgeben.

Die Angst fährt mit

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Jens Hase, DDR-Flüchtling
Aus DOK vom 24.09.2014.
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Als sich der Zug um 20.50 Uhr vom Bahnhof Praha-Liben aus in Bewegung setzt, herrscht bei vielen Fahrgästen eine Mischung aus Zuversicht und blanker Angst. Die Reise in die Freihheit beginnt in völliger Isolation. Die Waggontüren sind von aussen mit einem Vierkantschlüssel verschlossen worden, es ist ein fahrendes Gefängnis. Die einzige Verbindung zur Aussenwelt sind Transistorradios. Die Abteile sind restlos überfüllt, ganze Familien fahren mit, Kinder und Säuglinge sind an Bord. Von Beginn an herrscht im Zug Misstrauen. Zu Recht, denn was die Menschen damals nur vermuten, ist heute gesichert: Der Zug war von Stasi-Leuten durchsetzt.

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Frank Elbe, Diplomat
Aus DOK vom 24.09.2014.
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In Bad Schandau, kurz nach der tschechischen Grenze folgt der erste längere Halt. Menschen stehen an den Gleisen. Es sind die, die es nicht nach Prag geschafft haben. Hunderte. Viele entscheiden spontan, auf die Züge aufzuspringen. Polizisten versuchen, sie zurückzuhalten. Doch die Fahrgäste helfen bereitwillig, versuchen die verzweifelten Flüchtlinge durch die engen Zugfenster zu ziehen. Jeder neue Flüchtling wird bejubelt.

Ausweisentzug als letzte Demütigung

In Reichenbach steigen geschätzte einhundert Mitarbeiter der Staatssicherheit zu. Keiner der Reisenden weiss genau, was hier vorgeht. Die Beamten ziehen sämtliche Ausweise ein. Einige junge Männer geben ihre Papiere nicht ab und werfen sie aus dem Fenster. Eine Provokation.

Nach langem Warten steigen die Mitarbeiter der Staatssicherheit aus, ohne Ausreisepapiere verteilt zu haben. Aus ehemaligen DDR-Bürgern werden Staatenlose, die abgeschoben werden. Eine letzte Demütigung. So will es Ostberlin. Der Zug fährt wieder an.

Erlösende Ankunft im bayerischen Hof

In der Morgendämmerung, nach einer gefühlten Ewigkeit, erblicken die Flüchtlinge vom Fenster aus die Grenzanlagen, kilometerlang. Es wird still im Zug. Das erste westdeutsche Auto, die ersten Häuser, die erste Fabrik. Jubel setzt ein. Am Nachmittag kommen die Züge im bayerischen Hof an.

Für 5'400 Menschen ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Sie haben eine Diktatur hinter sich gelassen. Im Westen werden sie stürmisch begrüsst. Immer wieder fallen sich Unbekannte in die Arme. Das wochenlange Drama der ostdeutschen Flüchtlinge scheint an diesem Tag ein glückliches Ende gefunden zu haben.

Eine Revolution bahnt sich ihren Weg

Doch dieses Drama ist nicht zu Ende, im Gegenteil. Die Prager Botschaft füllt sich weiter. Am 2. Oktober 1989 leben bereits 1'600, am Tag darauf 4'000 Flüchtlinge auf dem Gelände der Prager Botschaft.

Der Zug in die Freiheit, das steht nun fest, war kein einmaliges Ereignis. Am 3. Oktober sind bereits mehr als 7'000 Menschen in der Botschaft. Als die Züge am 5. Oktober in Hof einfahren, sind sie längst zum Symbol für die Hilflosigkeit eines ganzen Landes geworden. Nur zwei Tage nach der Ankunft in Hof bricht sich die Revolution endgültig ihren Bann. Mehr als 70'000 Menschen demonstrieren auf dem Leibziger Ring. Am 9. November 1989 fällt die Mauer.

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