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Transmenschen in der Schweiz «Transkinder brauchen möglichst viel Freiraum»

In der Pubertät leiden ungefähr 70 Prozent der Transgender-Kinder an Depressionen, Suizidalität und Selbstverletzungen. Der gesellschaftliche Druck, nicht der Gendereinteilung zu entsprechen, belastet die betroffenen Kinder und Jugendlichen schwer. Psychiaterin Dagmar Pauli im Interview.

SRF DOK: Ein vierjähriges Kind möchte lieber das andere Geschlecht sein. Wie gehen die Eltern mit diesem Wunsch am besten um?

Dagmar Pauli: Wenn ein Kind sich lieber als Junge oder Mädchen definieren möchte, sagen die Eltern am besten: Wenn es dir wichtig ist, dann darfst du das auch machen. Dann bist du jetzt das, was du sein möchtest. Ein Kind braucht in dieser Hinsicht möglichst viel Freiraum und möglichst wenig Kategorien, die sein Geschlecht definieren.

Zur Person

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Dagmar Pauli ist Kinder- und Jugendpsychiaterin. Sie ist Klinikleiterin und Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit 2009 führt sie eine Sprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsvarianz und Geschlechtsdysphorie.

Macht die Gendereinteilung von frühster Kindheit an Sinn?

Nein, die Gendereinteilung macht überhaupt keinen Sinn. Was ist schon dabei, wenn im Klassenlager das Transmädchen bei den Mädchen schlafen will? Es ist ein Mädchen, wird von den anderen Mädchen als Gleichgesinnte akzeptiert, es sieht aus wie ein Mädchen und nur, weil da ein kleiner Penis ist, schürt das bei Erwachsenen oft völlig unrealistische Ängste.

Mit der frühen Genderzuteilung schwingt noch ein anderes Problem mit. Wenn ein Mädchen ein Junge sein will, ist das ein gesellschaftlicher Aufstieg. Hingegen wird es immer noch als ein Abstieg in der Gesellschaft empfunden, wenn ein Junge ein Mädchen sein will.

Es wird schlimmer wahrgenommen, wenn zugewiesene Jungen sagen, sie wollen ein Mädchen sein, als umgekehrt.

Ein zugewiesenes Mädchen, das ein Junge sein will und sich auch dementsprechend kleidet, darf das zum Glück meistens machen. Aber das Theater ist unglaublich, wenn ein Junge sagt, er wolle einen Rock anziehen!

Viele Eltern sind dann einfach nur entsetzt. Ich sage dann immer zu diesen Eltern: Es ist einfach nur ein Kind, das einen Rock anziehen will.

Welchen Einfluss haben genderspezifische Spielsachen und Kleidung?

Da erweist uns die Spielzeug- und Kinderkleiderindustrie einen Bärendienst. Der grösste Teil der Spielzeuge und Kleidungsstücke ist Mädchen oder Jungen zugeteilt. Das ist Unsinn. Warum gibt es nicht viel mehr geschlechtsneutrale Sachen? Wir sollten dringend aufhören ständig zu denken, das ist typisch Mädchen, das ist typisch Junge.

Nicht alle Kinder, die sich in ihrer Jugend fürs andere Geschlecht entscheiden, werden im Erwachsenenleben auch transgender. Ebenso ist der Leidensdruck bei Transmenschen unterschiedlich hoch.

Welche Auswirkungen hat der gesellschaftliche Druck auf Transkinder?

Die Rate von jungen Menschen mit Depressionen, Suizidalität und Selbstverletzungen ist bei Transmenschen in der Pubertät sehr hoch, sie liegt bei ungefähr 70 Prozent.

Wenn diese Jugendlichen sehr leiden, sollte man mit dringend gewünschten pubertätshemmenden oder geschlechtsangleichenden Massnahmen nicht zu lange warten.

Warum ist gerade in der Pubertät die Selbstmordrate so hoch?

In der Pubertät kommen die entscheidenden Fragen. Kann ich mit meinem Körper etwas anfangen, kann ich meinen Körper gerne haben, will ich mit diesem Körper Sexualität erleben? Oder passt dieser Körper einfach nicht zu mir?

Es ist nicht einfach in unserer normierten Gesellschaft etwas Besonderes zu sein.

Transmenschen sollten aber nie das Gefühl haben, sie müssten bis zu einer geschlechtsangleichenden Operation gehen, nur damit sie wieder in die gesellschaftlichen Kategorien passen.

Doch es ist oft nicht einfach, in unserer normierten Gesellschaft etwas Besonderes zu sein. Kein Jugendlicher findet es einfach nur cool «trans» zu sein. Viele hadern vor ihrem Coming-out ein bis zwei Jahre.

Wie erleben Sie die Reaktionen auf ein Coming-out?

Viele Jugendliche erzählen mir, dass ihr Freundeskreis das Coming-out positiv aufnimmt. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen reagiert tolerant. Aber die ältere Generation tut sich mit diesem Thema immer noch schwer und zeigt oft eine grosse Abwehrhaltung.

Manche Eltern empfinden das Coming-out ihres Kindes sogar als Verlust ihrer Tochter oder ihres Sohnes.

Das finde ich immer ganz furchtbar, wenn ich so etwas höre. Ich denke dann immer, dass diese Eltern wahrscheinlich nicht wissen, wie es ist, wenn man ein Kind durch einen Todesfall verliert.

Die Eltern müssen sich von einer Vorstellung, nicht von ihrem Kind verabschieden.

Eigentlich stirbt ja nur das Bild des Kindes, welches die Eltern von ihm hatten. Und sie müssen sich von dieser Vorstellung, nicht aber von ihrem Kind verabschieden. Das Kind ist noch da, der Mensch ist noch da. Das zu vergleichen, ist fast pietätlos gegenüber Eltern, deren Kinder gestorben sind.

Aber wenn Eltern dies so erleben, dann muss man das akzeptieren und ihnen helfen, dieses Gefühl zu überwinden.

«DOK» begleitet Transmenschen

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