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Einstein Online «Bei Angsterkrankungen gibt es eine extrem hohe Dunkelziffer»

Angststörungen sind schweiz- und europaweit die häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Thomas Reisch ist ärztlicher Direktor der Psychiatrie Münsingen. Laut dem Psychiater werden Angststörungen zu selten therapiert: «Ängste werden noch sehr häufig verborgen oder unter grossem Leiden ausgehalten».

SRF: Thomas Reisch, in der Schweiz sind rund zehn Prozent aller psychischen Krankheiten Angststörungen. Warum sind hierzulande so viele Menschen krank vor Angst?

Thomas Reisch: Wie verbreitet eine Krankheit ist, hängt stark mit der Kultur und der Gesellschaft zusammen, in der wir leben. Eine psychiatrische Krankheit tritt dann häufig auf, wenn ihre Symptome problematisch für das Leben in der Gesellschaft sind. Unsere Kultur verlangt, dass man tagtäglich perfekt funktioniert, dass man kommunikativ ist.

Ein Beispiel: Wenn wir enger zusammen leben, was heute der Fall ist, ist das Sprechen mit andern Menschen etwas Wichtiges. Folglich wird jemand, der das nicht kann, schnell Probleme bekommen. Wenn wir sehr vereinzelt wohnen und uns nur in einem bekannten Umfeld bewegen würden, dann hätte diese Angst nahezu keine Bedeutung.

Angststörungen

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  • Soziale Phobien: Ängste vor andern Menschen
  • Spezifische Phobien: Ängste vor bestimmten Objekten oder Situationen
  • Agoraphobie: Angst vor Menschenmengen und öffentlichen Plätzen
  • Generalisierte Angststörung: Diffuse Angst über mindestens 6 Monate
  • Panikstörungen: Spontan auftretende Angstattacken, nicht auf eine spezifische Situation bezogen

Sie sprechen soziale Phobien an?»

Genau, sie zählen zu den häufigsten behandelten Angststörungen in der Schweiz. Man versteht darunter die Angst vor Menschen in verschiedenen Formen und Ausprägungen. Dazu gehört beispielsweise so etwas verbreitetes wie Prüfungsangst. Menschen mit einer solchen Angst finden oft den Weg in die Therapie, weil sie in ihrem Berufsleben nicht vorankommen.

Ab wann ist denn eine Angst krankhaft?

Jeder kennt die Angst in bestimmten Situationen vor Menschen zu reden. Wenn aber beispielsweise eine Kinderärztin immer Angst davor hat, mit Eltern zu sprechen, und ausser mit Kindern mit niemandem richtig kommunizieren kann, dann ist diese Angst behandlungsbedürftig. Wenn also die Angst dazu führt, dass der Betroffene in seinem Alltag eingeschränkt wird und dadurch massive Nachteile im Leben hat – dann ist sie klinisch relevant.

Über die letzten Jahre gesehen ist es nicht gelungen durch konventionelle Therapien wie Psychotherapie und Medikamente die Häufigkeit von Angststörungen zu reduzieren. Was macht es so schwierig, Angst zu therapieren?

Nicht die Therapie selber ist das Problem, sondern dass viele Menschen gar nie in Behandlung kommen. Speziell bei Angsterkrankungen gibt es eine unglaublich hohe Dunkelziffer von Menschen, die zwar darunter leiden, sich aber nie in Therapie begeben. Ängste werden noch sehr häufig verborgen oder unter grossem Leiden einfach ausgehalten. Psychiatrische Erkrankungen im Allgemeinen sind stark stigmatisiert.

Was müsste geändert werden, damit sich mehr Menschen therapieren lassen?

Aufklärungskampagnen wie das bei Depressionen gemacht wird, wären sehr sinnvoll. Bei Angst habe ich das noch nie gesehen. Angsterkrankungen werden gerade von Angehörigen oft als nicht so wichtig angesehen, die Krankheit wird bagatellisiert.

Wie gut sind die Erfolgschancen wenn Betroffene einmal in Behandlung sind?

Die Chancen, erfolgreich therapiert zu werden, stehen extrem gut. Wenn ich mir eine Erkrankung aussuchen müsste, dann die Angst – denn dagegen gibt es die besten Therapien. Aber es ist nicht wie bei Kurzsichtigkeit, einfach eine Brille aufsetzen und gut ist, sondern für Betroffene ist es sehr harte Arbeit bis sie die Ängste los sind. Dieser Arbeit muss man sich stellen.

Virtuelle Therapien wie Selbsthilfe-Apps gegen soziale Angst werden mindestens als Unterstützung konventioneller Therapieformen gepriesen. Was halten sie von diesen Online-Therapien?

An sich ist das theoretisch denkbar. Die ganz grosse Gefahr bei diesen Angeboten sind sogenannte Drop-Outs, also dass die Therapie nicht abgeschlossen wird. Wenn es eine Online-Therapie ist, bei der menschlicher Kontakt stattfindet, wenn auch nur per E-Mail, ist die Abbruchrate geringer.

Thomas Reisch

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Der Professor für Psychiatrie wurde 1964 in Hagen, Deutschland, geboren. Er ist als ärztlicher Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen verantwortlich für die Behandlung von rund 250 Patienten. Der deutsch-schweizerische Doppelbürger lebt in Bern, ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Ist das nicht ein Widerspruch, wenn Menschen mit einer sozialen Phobie, deren Problem es gerade ist, unter Menschen zu gehen, das Problem dann zu Hause vor dem Bildschirm therapieren?

Na ja, umgekehrt könnte man argumentieren, dass die Schwelle, sich auf eine Therapie einzulassen, tiefer ist und einige so überhaupt zur Therapie kommen. Deswegen kann dieser Ansatz für ein bestimmtes Klientel ganz gut sein. Aber man muss wissen: Bei der Psychotherapie macht die Beziehung zwischen Patient und Therapeut 60 Prozent des Effektes aus. Dieser Effekt der zwischenmenschlichen Beziehung entfällt teilweise oder sogar ganz bei internetbasierten Therapieformen.

Werden Angsterkrankungen in Zukunft zunehmen?

Eher nein, ich denke, die Stigmatisierung der Krankheit wird abnehmen. Dadurch werden mehr Leute in Therapie kommen und mehr Betroffene werden ihre Ängste beherrschen können. Ich glaube, auf Dauer wird es etwas weniger angstkranke Menschen geben. Eine Welt ohne Angsterkrankte wird es aber sicher nie geben.

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