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Einstein Online «Ein virtueller Friedhof ist immer nur einen Mausklick entfernt»

Auf virtuellen Friedhöfen können Hinterbliebene um ein gezeichnetes Grab trauern, virtuelle Kerzen abstellen oder ihre Trauer teilen. Warum sie immer wichtiger werden und reale Gräber immer unwichtiger, erklärt der Soziologe Thorsten Benkel im Interview.

Zur Person:

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Thorsten Benkel (l.) forscht und lehrt Soziologie an der Universität Passau. Gemeinsam mit seinem Kollegen Matthias Meitzler (r.) untersucht er, wie die Gesellschaft mit den Themen Sterblichkeit und Friedhof umgeht. Sie betreiben eine Webseite zu dieser Arbeit und haben mehrere Bücher publiziert, darunter «Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe».

Herr Benkel, die Friedhöfe werden immer leerer, weil viele Menschen kein traditionelles Grab mehr wollen – aber die Friedhöfe im Internet boomen. Warum?

Das Grab verliert an Bedeutung, weil es statisch ist. Sie können es kaum verändern. Wenn sie es einmal haben, dann ist das meistens für 20 Jahre identisch. Man kann neue Blumen pflanzen, aber grössere Veränderungen sind schwierig. Eine Trauerseite im Internet können Sie dagegen nach Belieben verändern und anpassen. Neue Bilder, neue Musik, Kommentarfunktion und so weiter. Das heisst: Da können sie Trauer aktiv gestalten.

Und das ist ein Bedürfnis heute?

Ja, ich glaube auf jeden Fall. Ein konkretes Beispiel: Ein junger Mann begeht Selbstmord und seine Freunde sagen nicht etwa „Wir nutzen diese Facebook-Seite nicht mehr, weil er tot ist“, sondern sie schreiben auf seiner Seite, wie es ihnen geht. Welche Gefühle sie haben, wie sie trauern. Normalerweise müsste das gemäss der Tradition jeder für sich allein am Grab machen. Aber jetzt kann ich am PC sitzen und trotzdem offen meine Trauer kundtun. Und der grosse Vorteil ist, dass ich wirklich eine Antwort bekomme, wenn ich das will. Und nicht mehr nur innere Zwiesprache halten muss.

Wer nutzt diese digitalen Friedhöfe?

Ein Freundeskreis, der um einen 20-Jährigen trauert, findet die Idee des virtuellen Friedhofs sicher sehr viel greifbarer als ein Kreis von 50-Jährigen. Die Alltagswelt der Jüngeren wird sowieso permanent vom Internet begleitet.

Friedhöfe spiegeln immer auch gesellschaftliche Trends...

Ja, und ein weiterer ist die Delokalisierung. Was bei Youtube und Facebook funktioniert, funktioniert auch hier: Auf einem virtuellen Friedhof ist die Trauer nicht mehr an einen Ort gebunden. Freunde oder Familie, die beispielsweise im Ausland sind, können auf diesem Weg trotzdem mittrauern.

Auszug aus einer Webseite eines Online-Friedhofs.
Legende: Online gedenken: Auf Webseiten wird auch erfasst, welche «Grabmäler» häufig besucht wurden – und welche kaum. www.strassederbesten.de

Ist diese virtuelle Trauer heilsam? Oder erschwert sie vielleicht auch das Loslassen?

Ein Effekt ist natürlich, dass der Abschluss schwieriger gelingt. Wenn man an einem realen Grab steht, kann man den Friedhof verlassen, nach Hause gehen – und das Grab ist weg. Doch ein virtueller Friedhof ist immer nur einen Mausklick entfernt. Da kann die Verpflichtung entstehen, häufiger online zu sein, häufiger nachzuschauen – und wenn da einer was reinschreibt, direkt zu antworten. Aber ich denke, dass man dort irgendwann auch loslässt. Irgendwann wird auch ein virtuelles Grab nicht mehr gepflegt, weil das Leben weitergeht.

Findet sich die Digitalisierung denn auch auf dem Friedhof wieder?

Sogar in sehr vielfältiger Form. Wir haben Grabsteine, in die Internetlinks eingemeisselt sind. Die QR-Codes erobern den Friedhof auch: Man scannt sie mit dem Smartphone ein und erhält Informationen über den Verstorbenen. Es gibt auch Gräber, in die das Handy der Verstorbenen eingearbeitet ist. Also nicht nur der Grabstein in Handyform – auch das gibt es – sondern das tatsächliche Handy oder der Laptop sind im Grabstein. Solche Verweise auf die digitale und virtuelle Welt werden mit Sicherheit zunehmen, denn alle, die ab jetzt sterben, sind davon schon recht stark geprägt. Und in 50 Jahren gibt es niemanden mehr, der nicht sein Leben lang das Internet benutzt hat.

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