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Neue Gedichte - wie wir sie lesen, wie wir sie verstehen

Markus Bundi, Literaturkritiker und Schriftsteller, Hans-Peter Müller-Drossaart, Schauspieler, und Literaturredaktor Felix Schneider präsentieren neue Lyrikbände von Christian Haller, Dorothea Grünzweig, Rudolf Bussmann und anderen. Einzelne Gedichte werden vorgelesen und interpretiert.

Zum Schluss ist ein historisches Tondokument von Erich Fried zu hören.

Einzelne Beiträge

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Dorothea Grünzweig

DER TRAUERSCHNÄPPER HAT SICH IN
sein leid verkrallt mit stimmbändern
schon aufgerissen singt er und singt

vor jenem kasten wo er im letzten jahr
genistet hat schnappt sich da er
alleine blieb die trauer täglich

die ihn zum singen zwingt
mit kopf im kasten
klagt er in dessen hallraum ein

vergleichen wir tier mensch
liiern wir welten wir tun es gern
auch mensch und katze

beiden ist eigen liegelust in kissen
die zugeständnisse für volle teller
das jagefieber die erfüllungsgier

und katzen gibts die um den hals
ein glöckchen tragen und so verjagen
was sie suchen ohne es zu wissen




DAS ABENDLICH VERLETZLICHE DER FELDER
ihr grad das licht erblickte grün
lässt mich vom hügel auf sie schauen

am spielhaus streckt der trauerschnäpper
die flügel vor der katze
sie schnappt und er verschwindet in ihr

die schaukel staucht mich hin und her
das haus ist leer ich bleibe sitzen
die füße stehen in einer schauerlache

und liegt das kettchen um den hals
mit einem finger muss ichs ständig weiten
es finden feste statt auf sommerinseln

die sich von mir ganz absetzen
ich kann die glitschigen sich aus der
trostaffäre ziehenden worte nicht halten




INS HEIM NEHM ICH DEN ELCH MIT
der bruder trägt ihn durch den wald

spricht von der mutter die dem elch
ein kleines bisschen ähnlich sei

ich sag ihm von der hausauflösung
er drückt das tier an seine brust

und das gesicht in das geweih
weint schaukelt dann lacht er dabei

wie wenn der abschied jetzt
nur eine phase wäre

ein trauerlied in zyklischer geschichte
die auflösung bald aufgehoben und

alles kostbare sei wiederbringlich



Aus: Dorothea Grünzweig: Die Auflösung
© Wallstein Verlag, Göttingen, 2008
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Christian Haller

Name, Verwandlung

Ein Stück Lascaux
von der Höhlenwand
gefallen
in die Jetztzeit
eines Hügels:
Ein Wild – äsend
unter schon herbstlichem Forst

das Reh!

Die Nennung zähmt
unerwartet,
verwandelt das Wild
in eine Miniatur vor Springbrunnen,
nachempfundenen Rokokogarten,
wird zum disneyumspannenden
weltbraunen Auge.

Und ich rufe gegen die
Verwandlungskraft des Namens
das Erinnern auf:
Hingestreckt neben dem Feuer
lagen die Tiere, zurück-
geworfen die Köpfe,
das Fell borstig, klebrig
von Fett, stank ranzig
nach Blut
und groß wie Traubenbeeren
knospten die Zecken.

Das Auge erwies sich als Tiefsee
endgültigen Vergehens
unter milchiger Haut:
erloschenes Lascaux
für immer gefallen von der Wand –

Fleisch!

und abends kroch ich zurück
aus Gestrüpp und Wald,
über Trittpfade in die Welt der Namen
nannte sie
und erbrach mich
in verzweifelter Trauer
über die Sahnetorte
serviert zur Nachspeise
nach Pfeffer und Rücken



Die englische Pfeife

Mein Vater hatte sie 1947
bei Strohmeier gekauft,
eingeraucht bereits:
ein klassisches Stück.

Er brannte sie an – Dunhill –
während der Ausflüge ins Elsaß
zur Fasanenjagd, und goldig
flogen die Boomjahre auf.

Ich stopfte sie heimlich
mit getrockneten Blättern
im Apfelbaumgarten,
wo heute die Lastzüge stehen.

Sailor! – sagte mein Vater,
als ihr Rauch in die Seeluft zog:
du willst das Abenteuer,
doch später wird man müde.

Einmal ließ ich das Mundstück,
vergilbter Kautschuk, fleckbesternt,
mit Vaters und meinen Zahnspuren
ersetzen: schwarzer Plastik.

Als ich den Riß im Pfeifenstiel
mit Klebeband umwickelte,
um das alte Holz weiterzurauchen,
da war ich bereits auf dem Weg,

ein alter Mann zu werden.

* * *


Wirfst mir deine Wortlosigkeit
vor die Füße

ich täusche mich nicht
darin hockt Geschwätz


* * *

 

Mein Schreibtisch –
auf zwei Böcke gelegt
eine alte Tür

ich weiß
noch immer nicht
wohin sie führt

ich sehe
Zusammengelesenes
Zusammengetragenes

so durch die Zeit
durch Umstände
auf dieser Tür
in die Zerstreuung
geführt


* * *

 

Die Konjunktive
stöckeln buntfarbig vorbei

hinter ihnen wälzen sich
es war doch so heran

ein ganzer Verein von
aber, dennoch, trotzdem

schwenkt Fahnen
wirft Hüte in die Luft

doch keiner ist
da – ich meine keiner

der seine Taten im Präsens voll-
bringt geht liegt –

wenn schon keiner da ist
was steh ich denn am Rand

sehe diesen Würde
und Waren zu?



Aus: Christian Haller: Am Rand von allem
© Edition Isele, Eggingen, 2008

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