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«Manchmal hat mich der Wind gestreichelt»

Wird ein Angehöriger zum Pflegefall, steht das Leben Kopf. Emotionale Herausforderungen, finanzielle Nöte und körperliche Belastungen bis zur Erschöpfung sind oft vorprogrammiert. Eine Betroffene erzählt aus ihrem Alltag.

Im «Club» diskutieren Experten und Betroffene über diese menschliche Dramatik und ihre gesellschaftlichen Konflikte. Beatrice Gerber, ebenfalls Gast in der Sendung, hat eine solche Pflegesituation während Jahren trotz gesundheitlicher Einbrüche und einem Burnout bewältigt:

SRF: Frau Gerber, warum mussten Sie Ihren Mann rund um die Uhr zu Hause pflegen?

Beatrice Gerber: Mein Mann wurde 2003 wegen einer Spinalkanalverengung operiert, mit einer zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit, dass er danach gelähmt sein könne. Und so kam es tatsächlich – er erwachte als Tetraplegiker!

Mit welchen Konsequenzen für Ihr Leben?

Ich habe meinen Mann zehn Jahre nebst meiner Erwerbsarbeit als Verkäuferin von Elektrowerkzeugen rund um die Uhr gepflegt. Ich musste ihn gegen Ende nachts alle 20 Minuten umlagern und konnte darum nie richtig schlafen. 2013 bin ich zusammengebrochen. Ich war ausgebrannt und konnte nicht mehr auf den Beinen stehen. Diagnose: Burnout.

Welches war die härteste Belastungsprobe?

Ich erkrankte 2008 an einem Darmkrebs, machte die Chemotherapie und hatte auch noch einen Darmverschluss. Mein Sohn war dieser Belastung am wenigsten gewachsen, vielleicht ist er darum in die Drogensucht geraten. Trotz Krebs musste ich auch dieses Problem noch lösen.

Und die finanziellen Folgen?

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Beatrice Gerber (58) hat ihren gelähmten Mann zehn Jahre zu Hause gepflegt. Sie erkrankte an Krebs und stürzte in ein Burnout. Trotz des harten Schicksals sagt sie: «Ich war nie eine Marionette.»

Beatrice Gerber ist Gast im «Club» vom 9.9.2014

Mein Mann verdiente noch 20 Prozent. Als Lagerist hat er vor der Operation über 40 Jahre lang im Schweizerischen Buchzentrum gearbeitet. Als Tetraplegiker wurde ihm eine Arbeit angeboten, die er mit drei Fingern auf dem Computer erledigen konnte. Zusätzliche erhielt er noch Hilflosenentschädigung. Ich persönlich musste meine Berufstätigkeit stark reduzieren. Die Lohneinbussen waren beträchtlich, wir hatten bedeutend weniger Geld zum Leben.

Wie hat sich die Beziehung zu Ihrem Mann verändert?

Vorher war er Ehemann, dann ist daraus eine platonische Liebe geworden. Wir kamen einander nur mit Augenkontakt näher. Der Körper war durch die Krankheit empfindungslos. Trotzdem hatten wir einen Seelenfrieden miteinander. Auch ich konnte das Schicksal annehmen. Manchmal hat mich der Wind gestreichelt, wenn ich es besonders nötig hatte.

Woher haben Sie die Kraft geholt, trotz aller Tiefschläge weiterzumachen?

Ich sah das als meine Lebensaufgabe. Wenn es mir besonders schlecht ging, holte ich Kraft in der Natur. Aus Kaulquappen werden Frösche, aus Knospen Rosen, die Natur hat mir vorgelebt, dass das Leben weiter geht. Es kommt der Herbst, es kommt der Winter, aber auch der nächste Frühling.

Welche Forderungen an die Gesellschaft leiten Sie aus Ihrer Geschichte ab?

Es hätte mir jemand helfen müssen, bevor es zu spät war. Jemand, der mir Ratschläge gegeben oder manchmal auch unter die Arme gegriffen hätte. Und das ohne Wenn und Aber, wer es bezahlen würde.

Was hat Sie das Schicksal gelehrt?

Es scheint widersprüchlich, aber ich hatte das Gefühl, das Leben selber zu gestalten. Ich war nie eine Marionette. Ich musste mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und ertragen, nicht zu wissen, was es mir morgen bringen wird.

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