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Sorgen neue Diagnoserichtlinien für mehr psychisch Kranke?
Aus Rendez-vous vom 17.05.2013. Bild: Keystone
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Stark umstrittenes Manual der psychischen Leiden

Seit Monaten warnen Kritiker vor der Neuauflage des Diagnosemanuals für psychische Störungen (DSM). Denn die Schwelle für gewisse psychische Krankheiten werde darin fahrlässig gesenkt. Die Neuerungen werden sich auch in der Schweiz auswirken, wenn auch über Umwege.

Das dicke Buch ist nur für Insider verständlich, trotzdem hat kaum eine andere Fachpublikation in den letzten Wochen für so viele Schlagzeilen gesorgt. Denn in der Neuauflage des US-amerikanischen Diagnosemanuals für psychische Störungen, kurz DSM, kann neu beispielsweise die Trauer um einen verstorbenen Mitmenschen zur Depression werden, häufige Trotzanfälle eines Kindes zu einer Fehlregulationsstörung, Vergesslichkeit im Alter zur so genannten «neurodegenerativen Störung». Erfundene Krankheiten, schimpfen Kritiker. Reale Leiden mit Krankheitswert, entgegnen Befürworter.

In der Schweiz gilt ein anderes Manual

Doch was kümmert uns in der Schweiz eigentlich, was in einem amerikanischen Diagnosemanual definiert wird? «Im medizinischen System der Schweiz ist nicht das DSM relevant, sondern das ICD», sagt Franz Caspar, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie und Leiter der psychologischen Praxisstelle der Universität Bern. Das ICD wird im Gegensatz zum DSM von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben, gilt also weltweit. Psychische Störungen bilden darin zwar nur ein Kapitel neben anderen zu körperlichen Diagnosen. Doch genau dieses eine Kapitel ist auch für hiesige Psychiater und Psychologen verbindlich. Krankenkassen, die Invalidenversicherung, Gerichte, sie alle arbeiten mit dem ICD.

Dennoch ist die ganze Diskussion um die neuen Kriterien in der DSM-Neuauflage keine reine inneramerikanische Diskussion, sagt Franz Caspar: «Es ist anzunehmen, dass Veränderungen im DSM auch Auswirkungen haben werden auf die nächste Version des ICD.» Denn das ICD soll in zwei Jahren ebenfalls revidiert werden. Lehnt es sich tatsächlich an das DSM an, dann hätten wohl tatsächlich plötzlich mehr Menschen Anrecht darauf, eine psychiatrische Behandlung von der Krankenkasse vergütet zu bekommen.

Mildere Gerichtsurteile?

In Straffällen könnten zudem mehr Menschen auf mildere Gerichtsurteile hoffen, sagt Josef Sachs, der Chefarzt an der psychiatrischen Klinik Königsfelden und Präsident der Schweizer Gesellschaft für forensische Psychiatrie: «Das könnte bedeuten, dass man leichter vermindert schuldfähig sein könnte, als man das früher war.»

Kommt hinzu: Die neuen Diagnosen des DSM dürften auch über die Forschung ihren Weg in die Schweiz finden. Denn Studien zu psychiatrischen Störungen werden hauptsächlich in angelsächsischen Fachjournalen publiziert. Und die verlangten bisher meist DSM-Diagnosen. Schweizer Forscher werden also gezwungen sein, wenigstens teilweise mit dem DSM zu arbeiten.

Einzug über die Hintertüre

Indirekt wird das auch für Psychiaterinnen und Psychologen in der Praxis eine Rolle spielen, sagt Franz Caspar: «Wenn man nachlesen will, was man gegen eine Störung macht, was der neuste Stand der Forschung ist und ob es neue Interventionsmethoden gibt, dann ist die amerikanische Literatur äusserst relevant.» So wird also das US-amerikanische Manual DSM über die Hintertüre auch bei uns Einzug halten.

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