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Warum Tessiner Kinder weniger Ritalin erhalten

Der UNO-Kinderrechtsausschuss kritisiert, dass Schweizer Kinder zu viel Ritalin erhalten. Aber nicht überall in der Schweiz greifen Kinderärzte gleich schnell zum Medikament. So ist man im Tessin viel zurückhaltender mit der Abgabe von Psychopharmaka. Dies hat kulturelle Gründe – aber nicht nur.

Der Tessiner Kinderarzt Andreas Wechsler kennt die Wirkung von Ritalin aus eigener Erfahrung. Alle Mitarbeiter seiner Praxis in Lugano hätten einmal Ritalin probiert, sagt er. Die Wirkung sei frappant gewesen, er konnte hochkonzentriert stundenlang arbeiten.

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Weniger Ritalin im Tessin
aus Wissenschaftsmagazin vom 14.02.2015. Bild: Keystone
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Wer also methylphenidathaltige Medikamente an laute und unkonzentrierte Kinder abgibt, erziele immer eine positive Reaktion. Viele Tessiner Kinderärzte aber finden dies falsch, sagt Andreas Wechsler. Er ist als Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Entwicklungspädiatrie für das Tessin zuständig und hat durch diese Tätigkeit auch viel Kontakt mit Deutschschweizer Kollegen.

Eine Kultur der grösseren Toleranz

«Niemand hat es gern, wenn Kinder lärmen», sagt Wechsler. «Aber: Im Tessin stört dies weniger.» Die Toleranz der Gesellschaft sei grösser was Kinder angeht. Dies habe zum einen mit der Mentalität südlich des Gotthards zu tun. Dazu komme ein Schulsystem, das schon seit Jahrzehnten voll und ganz auf den integrativen Ansatz setzt.

Tessiner Kinder kommen viel später als Deutschschweizer Kinder in unterschiedliche Leistungszüge. Dies führt laut Wechsler dazu, dass für die Tessiner die Bandbreite der Normalität weiter ist als in der Deutschschweiz.

Eine Aussage, die von Fachkräften, die die unterschiedlichen Schweizer Schulsysteme kennen, bekräftigt wird: Ein unruhiges Kind fällt im Tessin grundsätzlich später auf als in der Deutschschweiz. Die Diagnose «ADHS» wird also später gestellt.

Psychopharmaka als letztmöglicher Ausweg

Ein weiterer Unterschied besteht auf der Ebene der Therapie. Im Tessin würden methylphenidathaltige Medikamente erst eingesetzt, wenn alle anderen Therapiemöglichkeiten wie Maltherapie oder Ergotherapie versagen.

«Es kann bis zu zwei Jahren dauern, bis ich nach der Diagnose Ritalin verschreibe», sagt Valdo Pezzoli, Chefkinderarzt am Regionalspital Lugano. Somit sei die Fehlerquote sehr gering. Und dies erachtet Pezzoli als sehr wichtig. Er wolle nicht die Gehirne von gesunden Kindern mit Ritalin dopen.

Würden aber solche Medikamente richtig eingesetzt, seien sie ein Segen für das Kind. Und das Kind, um das gehe es ja. Kinder dürften nicht ruhig gestellt werden, weil sie so dem Leistungsdruck der Gesellschaft besser Stand halten können. Der Leistungsdruck und das allgemeine Stressempfinden seien zudem im Tessin noch etwas geringer als im Norden.

Es gibt auch in der Deutschschweiz viele Kinderärzte die beunruhigt darüber sind, dass viele Kinder mit Psychopharmaka therapiert werden. Nur praktizieren sie eben in einem Umfeld, das anders als das der Tessiner Kinderärzte ist. Und das gemäss UNO-Kinderrechtsausschuss zu einem zu starken Ritalin-Gebrauch führt.

Das zuständige Bundesamt will jetzt die Empfehlungen der UNO prüfen. Der Bundesrat seinerseits hat in der Beantwortung eines Vorstosses Ende letzten Jahres seine Antwort schon gegeben: er sieht zur Zeit in Sachen Ritalin keinen Handlungsbedarf.

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