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Mit der Diagnose «Unheilbar» leben lernen
Aus Puls vom 31.08.2015.
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Unheilbar krank – Die Suche nach der verlorenen Lebensfreude

Die Diagnose «unheilbar» verändert das Leben Betroffener einschneidend. Beim Verarbeitungsprozess durchlaufen Patienten häufig ähnliche Phasen: nicht wahrhaben wollen, Wut, Trauer und Depressionen. Das Finden des neuen Lebenssinns ist ein langer Weg.

Vor fünf Jahren erhielt Reto Gloor seine Diagnose: Er war an der unheilbaren Nervenkrankheit Multiple Sklerose diagnostiziert – genau in einer Phase, in der sein Leben sowieso bereits im Umbruch war, denn er hatte kurz zuvor seinen Lehrerberuf an den Nagel gehängt und wollte sich als Comic-Zeichner selbstständig machen.

Auf den Schock der MS-Diagnose folgte die Verdrängung. Reto Gloor wollte sein Schicksal nicht wahrhaben, machte weiter wie zuvor. Dann begann er Alternativen zur Schulmedizin zu prüfen, versuchte, seiner Krankheit mit komplementärer Medizin Herr zu werden – ohne Erfolg. Als er langsam begriff, dass er nicht mehr gesund werden würde, ging es ihm körperlich und psychisch stetig schlechter.

Hoffnungslosigkeit und Depression

Nach dem medizinischen Spiessrutenlauf, langem Hoffen und Bangen, vielleicht doch ein Mittel gegen die Krankheit zu finden, begann Reto Gloor immer mehr mit seinem Schicksal zu hadern. Nach und nach verlor er die Motivation aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und geriet in eine tiefe Depression. Hinzu kamen finanzielle Probleme, die ihm grosse Sorgen bereiteten.

Am tiefsten Punkt angekommen, half Reto Gloor seine liebste Tätigkeit: das Zeichnen von Comics. Er passte alles so an, dass das Zeichnen für ihn trotz seiner Einschränkungen machbar war. Er sattelte von Stift und Tusche auf den Computer um, um seine zunehmenden koordinativen und muskulären Schwierigkeiten auszugleichen – und spürte erstmals wieder so etwas wie Lebenssinn und Lebensfreude.

Unheilbar Erkrankte unterschätzen ihre eigenen Möglichkeiten und Ressourcen.
Autor: Pasquale Calabrese Neuropsychologe

Patienten reagieren auf die Nachricht einer unheilbaren Krankheit häufig ähnlich. Neuropsychologe Pasquale Calabrese vom Universitätsspital Basel: «Nach dem Schock versuchen die meisten, ihr Schicksal für kurze Zeit zu verdrängen. Daran schliesst sich eine Phase der Wut, des Zornes und der Trauer an. Man fragt sich: Wieso gerade ich?» Danach verfallen viele Kranke in eine Depression. Sie spüren, dass es keinen Ausweg mehr aus der Krankheit gibt.

«Vielfach unterschätzen die unheilbar Erkrankten aber ihre Möglichkeiten, die Ressourcen, die es ihnen ermöglichen, wieder Halt und Freude im Leben zu finden», so Calabrese. Die letzte Phase, jene der Aushandlung, bei der Betroffene versuchen, sich so gut wie möglich mit der Krankheit zu arrangieren, kann Patienten wieder neue Chancen bieten, Lebensfreude zu finden und sich dem Schicksal ein Stück weit zu stellen.

Das Lebenswerte im Leben finden

Menschen, die schon vor einer Krankheit wenig Freizeitbeschäftigungen und soziale Kontakte haben, tun sich dabei deutlich schwerer. Mit professioneller Unterstützung, Psychologen oder Sozialarbeitern versucht man festzustecken, welche Tätigkeiten und Interessen dem Leben wieder einen Sinn geben könnten. «Man kann mit einem Aktivitätsaufbau beginnen: Man erarbeitet mit dem Patienten realistische Tätigkeiten, die er dann versucht in die Tat umzusetzen. Gerade bei Menschen, die schon vor einer schweren Diagnose wenig sinnstiftende Beschäftigungen in ihrem Leben hatten, ist dies besonders wichtig.»

Die Krankheit ist jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung.
Autor: Reto Gloor

Reto Gloor hat seine Krankheitsgeschichte ab dem Zeitpunkt der Diagnose auf fast 100 Seiten zu einem grafischen Roman verarbeitet. Durch die künstlerische Auseinandersetzung hat er mehr Abstand gewonnen, mehr und mehr die Beobachter-Position bezogen, und begonnen, die Umstände zu akzeptieren. Sich mit seinem Schicksal zu versöhnen, fällt aber auch ihm ganz und gar nicht einfach.

«Die Krankheit ist jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung, manchmal geht es mir schlechter, manchmal besser. Ich bin einfach sehr froh, dass ich meine Comic-Kunst machen kann. Der Alltag ist durch die Krankheit anstrengender geworden und ich muss immer wieder aufs Neue lernen mit meine Schicksal umzugehen, aufzustehen und weiterzugehen.»

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