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Die Krux mit psychiatrischen Diagnosen
Aus Kontext vom 24.04.2013. Bild: Colourbox
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Kritik an DSM-Revision Wann ist ein psychisches Tief eine Krankheit?

Wo verläuft die Grenze zwischen psychischer Störung und Gesundheit? Das Diagnosehandbuch für psychische Störungen (DSM) soll demnächst in stark überarbeiteter Form erscheinen. Kritiker bemängeln, dass damit immer mehr gesunde Menschen psychisch krank geschrieben würden.

Ein Beinbruch ist ein Beinbruch. Er ist relativ einfach zu diagnostizieren. Anders eine psychische Störung. Hier braucht es einen ganzen Katalog von Kriterien, um eine genaue Diagnose stellen zu können. Ein solcher Katalog ist das Diagnosehandbuch «Diagnostic and statistical manual of mental disorders», kurz DSM. Es soll in Kürze in vollständig überarbeiteter Form herauskommen. Kritiker bemängeln, dass darin die Kriterien gelockert oder gar ganz neue Krankheiten erfunden würden. Dadurch würden immer mehr eigentlich gesunde Menschen psychisch krank geschrieben.

Traurig oder depressiv?

Zum Beispiel war in der letzten Ausgabe des DSM die Trauer um einen gerade verstorbenen Mitmenschen noch kein Grund für die Diagnose «Depression». Denn Niedergeschlagenheit, Schlaf- und Appetitlosigkeit sowie mangelnder Antrieb seien in den ersten Wochen nach dem Tod einer geliebten Person eine völlig normale Reaktion. In der neuen Ausgabe des DSM soll nun diese Klausel fallen.

Das findet einer der schärfsten Kritiker des neuen DSM, der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, falsch. Dass man verzweifelt sei nach dem Verlust eines geliebten Menschen, das sei das Leben, das gehöre nicht krankgeschrieben, findet Allen Frances, der bei der früheren Version des DSM massgeblich mitgearbeitet hat. Schon bei dieser hätten sie vorsichtiger sein sollen, glaubt er heute.

«Epidemien von psychiatrischen Störungen»

«Wir haben wahre Epidemien von psychiatrischen Störungen erlebt», sagt Allen Frances, «die allerdings mehr widerspiegeln, wie das Handbuch geschrieben und angewendet wurde, als dass Menschen tatsächlich kränker geworden wären.» In den letzten 15 Jahren sei in den USA beispielsweise zwanzig Mal öfter Autismus diagnostiziert worden als in der Zeit davor. Das neue DSM werde diese Hyperinflation an Diagnosen noch verstärken – bei Angststörungen etwa oder bei Vergesslichkeit.

Allen Frances hat deshalb das Buch «Normal, gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen» geschrieben. Er warnt darin, dass die Zunahme an Diagnosen zu exzessivem Medikamentenkonsum führen werde, und Medikamente hätten oft gefährliche Nebenwirkungen. Allen Frances hält denn auch Pharmafirmen für mitschuldig an den vielen geplanten Veränderungen im neuen Manual. Der einfachste Weg, ihre Medikamente besser zu verkaufen sei nun mal, mehr Menschen als psychisch krank zu diagnostizieren: «The best way to sell a pill, ist to sell an ill». 

«Diagnosen sind nur Hilfsmittel»

Werden tatsächlich immer mehr Menschen psychisch krank geschrieben? «Allen Frances hat nicht ganz unrecht», findet Paul Hoff, Chefarzt und stellvertretender klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Was wir in der Psychiatrie für krank halten, reflektiert auf eine bestimmte Art immer das, was eine Gesellschaft gerade über abweichendes Verhalten denkt.»

Doch Paul Hoff relativiert die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem neuen Diagnosehandbuch: Die Diagnose sei nur ein Element von vielen im Behandlungsprozess. Und: «Diagnosen sind keine Gesetze, sind nichts ins Stein Gemeisseltes. Diagnosen sind Hilfsmittel, sind Tools, um die Fülle von Informationen, die der Psychiater von seinen Patienten erhält, zu verdichten und damit die Kommunikation zu erleichtern».

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