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Reisegeschichten Die Schönheit gehört nicht der Mafia

Die `Ndrangheta hat 500 ihrer Orangen- und Olivenbäume zerstört. Sie hat den Bagger angezündet, der die verkohlten Strünke ausgraben sollte. Die Genossenschaft «Valle del Marro» in Kalabrien ist immer wieder Ziel von Angriffen der Mafia. Doch Aufgeben ist kein Thema.

Antonio Napoli öffnet uns das schwere Eisentor, welches das Herzstück des landwirtschaftlichen Betriebs schützt. Hier sind die Büros und der Wagenpark untergebracht. Zufrieden zeigt er auf die Fässer mit Auberginen und den in Kalabrien besonders beliebten Peperoncini, die auf dem videoüberwachten Gelände auf ihre Weiterverarbeitung warten. Dieses Jahr, freut er sich, sollte es eine gute Ernte werden. Antonio wirkt ernst, gänzlich uneitel und gleichzeitig leidenschaftlich.

2004 haben er und acht Mitstreiter die Genossenschaft «Valle del Marro» gegründet. Sie gehört zur nationalen Organisation «Libera Terra» (Freies Land), die in ganz Italien Land bewirtschaftet, das der italienische Staat von Mitgliedern der Mafia konfisziert hat. Nach Artikel 109 der Verfassung darf solches Land für soziale Zwecke gebraucht werden. Auf den 130 Hektaren, die sich in der ganzen Ebene von Gioia Tauro verteilen, bauen Antonio und seine Gruppe nebst Gemüse vor allem Orangen und Oliven an. «Valle del Marro» bietet heute 15 Arbeitsplätze, während der Erntezeit rund 30. «Immer hiess es, in Kalabrien sei es unmöglich, legale Landwirtschaft zu betreiben. Wir haben das widerlegt», sagt der studierte Philosoph.

Die Mafia verliert ihr Gesicht

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Antonio Napoli über Einschüchterungsmethoden der Mafia
Aus Reisegeschichten vom 04.12.2015.
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Doch die `Ndrangheta, die kalabrische Variante der Mafia, lässt sich ihre Reichtümer nicht ungestraft wegnehmen. Immer wieder kommt es zu Diebstählen von Geräten und Zerstörungen an Pflanzungen. In die Tanks von Maschinen wird Zucker eingefüllt, 100jährige Olivenbäume werden umgesägt, auf das Haus des lokalen Unternehmers, der ihnen den verbrannten Bagger ersetzte, wurden 40 Schüsse aus einer Kalaschnikow abgefeuert. Er lebt heute unter Polizeischutz. Natürlich, es geht um ökonomische Werte. Viel wichtiger aber seien die symbolischen, meint Antonio Napoli. «Die `Ndrangheta ist längst globalisiert, finanziell gesehen hat sie das gar nicht nötig, aber hier in ihrer Heimat fürchtet sie sich davor, das Gesicht zu verlieren. Die grossen Palazzi, die riesigen Ländereien und die Sachgüter waren und sind Symbole der Macht, des Einflusses der Mafia über das Gebiet und seine Bewohner. Jetzt greift sie die Orte an, die Ausdruck sind für die Veränderung, für die Ablösung von ihrem System.»

Antonio fährt mit uns zu einem Olivenhain, wo er und seine Freunde wieder von vorne beginnen mussten. Aber wie geht das? Brennende Plantagen, lärmende Kettensägen – und niemand hört und sieht etwas? «Als dieser Olivenhain nachts angezündet wurde, hat niemand etwas gemeldet. Es gibt eine diffuse Angst, schliesslich sind das Güter, die bekannten Mafia-Familien gehörten. Manchmal reicht nur die Nennung von Namen, um die Leute zu erschrecken.» Es sei menschlich, dass man Angst habe, das sei auch bei ihm nicht anders, erklärt Antonio. Aber Angst dürfe nicht zur Regel des Lebens werden, dürfe einen nicht versklaven. Wenn man lerne, dieses Gefühl zu kontrollieren, könne man anderen Mut machen.

Der Pfarrer schickt die Mafia weg

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Pfarrer Don Pino: «Die Mafia ist eine gesellschaftliche Sünde.»
Aus Reisegeschichten vom 04.12.2015.
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So wie ihm einst Don Pino Mut gemacht hat. Don Pino De Masi ist der Pfarrer der örtlichen Gemeinde Polistena und arbeitet als Regionalkoordinator für «Libera Terra». Er war es, der Antonio Napoli ermutigt hat, die Genossenschaft mit zu gründen. «In Kalabrien haben junge Menschen nur drei Möglichkeiten: entweder sie ziehen weg, schliessen sich der `Ndrangheta an, oder sie bleiben und kämpfen für den Wandel.» Don Pino selbst hat sich schon vor 30 Jahren für letzteres entschieden. Um als Vertreter der Kirche Dinge zu verändern, müsse man das System der Mafia durchschauen, denn die Mafia sei nicht einfach ein rechtliches und ökonomisches Problem, sondern auch ein kulturelles.

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«Stirbt ein Mafioso mache ich keine öffentliche Beerdigung.»
Aus Reisegeschichten vom 04.12.2015.
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Die Bedeutung der Kirche hat für die Mafia abgenommen. Trotzdem sind Menschen wie Don Pino wichtige Orientierungshilfen in der Provinz an der Stiefelspitze Italiens, die eine der höchsten Arbeitslosenquote Europas aufweist. Antonio Napoli erzählt, wie trostlos er die von Gewalt und Angst geprägte Zeit als Jugendlicher erlebte. Damals hätten sich zwei Clans der `Ndrangheta bekämpft mit Dutzenden von Toten. «Niemand sprach das N-Wort aus. Die Menschen schauten sich nicht in die Augen. Kalabrien war eine Gegend, in der man nicht leben wollte. Wir wollten alle wegziehen.»

Die Mafia hasst es, wenn Menschen Alternativen haben

Auch ihn selbst zog es fürs Studium in den Norden nach Bologna. Aber dann kehrte er zurück. Zwei Gründe nennt er dafür: brennendes Heimweh und die Einsicht, dass die Mafia bald über ganz Kalabrien herrscht, wenn alle ehrlichen Menschen die Provinz verlassen. «Was die Mafia am meisten hasst, ist, wenn man legale Arbeit schafft und damit den Menschen Alternativen bietet. Und genau das tun wir.»

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«Die Schönheit gehört nicht der Mafia.»
Aus Reisegeschichten vom 04.12.2015.
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30 Jahre lang steht der Genossenschaft das konfiszierte Land zur Verfügung. Trotzdem ist sie darauf angewiesen, dass Kunden für ihre Produkte etwas höhere Preise bezahlen. Denn die Mitarbeiter würden gesetzeskonform bezahlt, was den Betrieb in einer Gegend mit tausenden von Einwanderern, die zu Hungerlöhnen arbeiten, auf dem normalen Markt konkurrenzunfähig mache. Aber man müsse optimistisch sein. In den 80er Jahren sei das Land zu 80 Prozent in den Händen der Mafia gewesen. Das sei nicht mehr so. Und fast jeden Tag kämen heute junge Leute vorbei und fragten nach Arbeit. Als sie angefangen hätten, wagte das niemand. «Wir wussten, dass es nicht einfach würde. Aber der Glaube an den Wandel hilft uns, die Angriffe zu erdulden und weiterzumachen. Wir haben ein Recht auf dieses Land. Es ist schön und die Schönheit gehört nicht der Mafia.»

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