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SRF-Korrespondent zieht Bilanz Mein Fünfjahresplan war ein anderer als der von Xi Jinping

Drei mal fünf Jahre sind eine Ewigkeit in China. So lange ist es her, seit ich zum ersten Mal einen Fuss ins Reich der Mitte gesetzt habe. Drei Fünfjahrespläne später verlasse ich ein komplett anderes Land und kehre zurück in Richtung Westen.

Mit mir nehme ich Tausende unbezahlbare Erfahrungen und Geschichten von Menschen, die an eine grosse Zukunft glauben. Mit im Gepäck ist aber auch das beklemmende Gefühl, dass China bereits vor mir in meiner alten Heimat angekommen ist: China werde ich nicht mehr los und das gilt wohl für uns alle.

Denn aus dem Reich der Mitte ist in der Zwischenzeit die Mitte eines neuen Reiches geworden: das Reich des völlig entfesselten, globalen Handels. China ist das Zentrum dieses neuen Reiches, von dem wir jeden Tag immer mehr abhängen; vom Moment an, wo wir unser Smartphone vom Nachttisch nehmen, bis zu dem, wo wir unsere Netflixserie ausknipsen. Denn längst werden nicht mehr nur die Geräte, die wir täglich benutzen in China zusammengeschraubt, sondern auch deren Denkmuster und Algorithmen dort entwickelt. Von Wissenschaftlern, die mit Stolz verkünden, wie sie erfolgreich zum ersten Mal eine Gen-Schere ans menschliche Erbgut gesetzt haben oder selbstfahrende Autos bauen, die sie ohne grossen Auflagen direkt in Chinas Grosstadtverkehr testfahren können.

Die letzten fünf Jahre habe ich nun fest hier gelebt, in diesem verrückten Land. Und just als ich hier ankam begann eine neue Zeitrechnung: Es begann die Ära Xi.

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Rückblickend muss ich sagen: Mein Fünfjahresplan war ein anderer, als der von Xi Jinping. Mit der Naivität eines staunenden Kindes liess ich mich vom Sog meiner neuen Wahlheimat mitreissen. Allzu lange glaubte ich aber nicht an all die verheissungsvollen Worte der vielgelobten Experten. Sie sprachen von Öffnung und Globalisierung, von einem China, das durch den Handel automatisch in die Grundwerte des westlichen Denkens eingebunden wird. Menschenrechte waren kein Thema mehr, die kommen automatisch, hiess es oft. Doch bald schon wurde Google aus China verbannt, Facebook verboten und Twitter gesperrt. Whatsapp bleibt jetzt auch stumm und meine chinesischen Freunde finden seit Neusten auch kein Skype mehr in ihrem Appstore.

Alibaba und die 40 Datenräuber

Sie brauchen unsere Apps und Netzwerke auch gar nicht mehr, denn sie haben WeChat und Weibo, Tencent, Alibaba und mehr als 40 andere Datenräuber, die alle besser und technologisch weiter sind als unsere westlichen Datenkraken. Sie sind so gut und so bequem, dass man dafür gern sein Gesicht hergibt, denn Privatsphäre ist in China längst weniger wert als Bequemlichkeit. Und es scheint, als hätte sich Chinas kommunistische Regierung daraus gerade seinen neuen Gesellschaftsvertrag gezimmert: Daten gegen Bequemlichkeit lautet dieser. Wer besonders gut mitmacht, kriegt Zückerchen, für Querulanten wird's unbequem. Willkommen im «sozialen Kreditsystem», das ab 2020 jeden in China erfasst haben wird.

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Das alles ist kein Huxley oder Orwell-Roman, sondern die Realität in der heute jeder 8. Mensch auf dieser Erde lebt. Wenn es so weiter geht, werden Anwälte und Richter bald nicht mehr viel zu tun haben in China, denn das System weiss längst mehr über jeden einzelnen Bürger, als ein Gericht je herausfinden kann.

Weg mit der rosaroten Brille

Viele Leute sind damit zufrieden, sie freuen sich über reduzierte Stomrechnungen und billigere Kredite, als gute Bürger. Doch dass sie genau damit ihre Unschuld verlieren, realisieren sie nicht. Denn was in China gerade passiert ist ist nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung eines der wichtigsten Pfeiler einer freien Gesellschaft: Die Unschuldsvermutung gibt's hier nicht mehr. Der Bürger ist grundsätzlich schuldig und muss seine Unschuld von morgens früh bis abends spät in real-time beweisen. Wenn wir nicht auch Teil dieser Xi-Topia werden wollen, müssen wir handeln. Die einzige Antwort darauf kann nur eine stabile, internationale, offene Gesellschaft mit mündigen und aufgeklärten Bürgern sein, die freien Zugang zu Bildung und Information geniessen und ihr Wissen auch regulativ einsetzen können.

Angst vor China hilft dabei nichts. Ein Begegnung auf Augenhöhe dagegen schon, sofern wir die rosarote Brille dabei zur Seite legen.

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